„Wir müssen die Quellen des Terrors austrocknen“

AZ: Herr Özdemir, Sie haben gesagt, den IS-Milizen könne man nicht mit der Yogamatte unterm Arm gegenübertreten. Was heißt das nach den Anschlägen von Paris? Deutsche Soldaten nach Syrien?
Cem Özdemir: Das heißt, dass wir alles tun müssen, die Quellen dieses barbarischen Terrors auszutrocknen – und die liegen im Nahen und Mittleren Osten. Am erfolgreichsten sind hier bisher die Kurden, die in Syrien und im Irak gegen den Islamischen Staat vorgehen, sie vor allem sollten wir weiter unterstützen.
Gleichzeitig müssen wir aber auch die ideologischen und finanziellen Hintermänner der Terroristen in die Pflicht nehmen, und damit meine ich vor allem Saudi-Arabien und die Golf-Staaten. Die Ideologie des Islamischen Staates ist zu 95 Prozent identisch mit der in Saudi-Arabien.
Das klingt, als solle Deutschland sich einen schlanken Fuß machen. Immerhin hat Frankreich die EU um militärische Hilfe gebeten.
Erst einmal ist es sinnvoll, dass Frankreich sich nicht an die Nato gewandt hat, sondern an die Europäische Union, die jetzt zusammenstehen muss. Im Bezug auf Saudi-Arabien und die Golfstaaten hat Deutschland da einiges diplomatisches Gewicht. Und was die Bundeswehr angeht: Ich kann mir gut vorstellen, dass wir Frankreich beispielsweise in Mali stärker entlasten.
Nach den Attentaten vom 11. September 2001 war es eine rot-grüne Regierung, die die Bundeswehr nach Afghanistan geschickt hat. Was ist heute anders als damals?
Wir befinden uns nach wie vor in einer Auseinandersetzung mit derselben Form von Terrorismus, und der hat seine Ursprünge im saudischen Wahhabismus. Mit dem von der Mehrheit gelebten Islam hat das nicht viel zu tun, zumal ja vor allem Muslime selbst bedroht sind. Parallel zu den Ereignissen in Paris gab es in Beirut Bombenanschläge, die überwiegend Schiiten galten. In Afghanistan sind sieben Angehörige der Hazara alleine deshalb enthauptet worden, weil sie einer religiösen Minderheit angehören, darunter ein neunjähriges Mädchen.
Jetzt hat der Terror uns getroffen, wieder einmal, aber in Syrien oder im Irak trifft er die Menschen jeden Tag. Hier werden Menschen regelrecht versklavt und massakriert.
Wenn Sie auf die Kurden setzen und die Bundeswehr nicht noch einmal in einen Einsatz wie in Afghanistan schicken wollen: Müssen wir die Kurden dann nicht weitaus stärker unterstützen als das bislang der Fall ist?
Wir müssen sie weiter unterstützen. Sie konnten sich bisher erfolgreich gegen den IS zu Wehr setzen, auch dank der deutschen Unterstützung. So haben die kurdischen Milizen gerade erst die Stadt Sindschar befreit, nicht zuletzt mit dem Engagement vieler jesidischer Frauen, die genau wissen, wie es ihren Schwestern in der IS-Gefangenschaft ergeht. Jetzt muss die Türkei die Grenze nach Syrien endlich dicht machen für alle Dschihadisten. Dazu müsste sie aufhören, die Kurden weiter zu schwächen.
Am Streit um die Flüchtlinge drohte Europa schon zu zerbrechen. Was macht Sie so sicher, dass das gleiche Europa jetzt gemeinsam und vor allem erfolgreich gegen den Terror vorgeht?
Wir haben nur eine Chance, wenn wir zusammenstehen – und das gilt nicht nur für den Kampf gegen den Terror, sondern auch für den Umgang mit Flüchtlingen, die ja am eigenen Leib erlebt haben, zu welchen Grausamkeiten ein Regime wie das des Islamischen Staates oder des Diktators Assad fähig ist. Wenn ich allerdings sehe, wie sich einige EU-Mitgliedsländer aus der Verantwortung stehlen, haben wir da noch eine Menge zu tun. Deutschland und Schweden können nicht auf Dauer die Hauptaufnahmeländer bleiben, auch andere müssen ihren Teil leisten.
Auf der anderen Seite ist das mit der Solidarität auch so eine Sache: Vor ein paar Jahren war es die Bundesregierung, die Griechen und Italienern die Solidarität verwehrt und sie mit den vielen Flüchtlingen alleine gelassen hat.