„Wir leisten Aufbauhilfe West“

Rico Hohlfeld kam 1991 aus Sachsen nach München. Dort hat er einen Ostalgie-Laden aufgemacht und einen Stammtisch gegründet. Zu Besuch beim bayerischen Ossi-Treffen
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Rico Hohlfeld kam 1991 aus Sachsen nach München. Dort hat er einen Ostalgie-Laden aufgemacht und einen Stammtisch gegründet. Zu Besuch beim bayerischen Ossi-Treffen

Von Tina Angerer

Das Licht ist schummrig im Keller. Rico, Oli und die anderen sitzen an ihrem Stammtisch an Bahn drei und bestellen Spezi. Hier wird nicht gebowlt, sondern gekegelt, wie früher. Der gekachelte Raum mit den lackierten Holztischen sieht aus wie Kegelbahnen in bayerischen Dorfkneipen ausgesehen haben. Heute gehört die Kegelbahn zu einem Chinarestaurant am Westkreuz, neben Schlecker und „ Harrys Tabakladen“.

Oli liest aus seinem neuen Lieblingsbuch vor, das er dabei hat: „Was hat 100 Beine und 4 Zähne? – Das Politbüro.“ Alle lachen, manche winken ab. Es ist ein DDR-Witzebuch, das neu auf dem Markt ist und gleich gibt es Frühlingsrollen und Ente süß-sauer am Münchner Ossi-Stammtisch.

Gegründet hat die Runde Rico Hohlfeld. Vor 18 Jahren, 1991, kam er aus Ebersbach in der Oberlausitz nach München. Den Mauerfall erlebte er als 18-jähriger Sachse als Soldat in Leipzig. Obwohl, erlebt kann man das nicht nennen. „Wir saßen in der Kaserne, uns Neulinge hat man nicht rausgelassen. Den Mauerfall haben wir im Grunde gar nicht mitgekriegt.“

Aufgewachsen ist Rico, seinerzeit trendig benannt nach Enrico Caruso, im „Tal der Ahnungslosen“, ohne Westfernsehen. Abhauen wollte er früher nie. Obwohl seine Oma in Ungarn lebte und die Familie öfter dort war. „Ich hätte damals nicht gewusst, was ich im Westen soll. Ich hätte wahrscheinlich auch Angst vor dem Ungewissen gehabt.“ Oli ist aus Rostock, auch er sagt: „Wir wollten nicht weg.“

Gekommen sind sie, wie die anderen hier auch, wegen der Arbeit. Rico war schon im Osten Eisenbahner, in München suchten sie einen Schaffner. Auch Oli ist bei der Bahn. Ricos Frau ist inzwischen Filialleiterin bei Tengelmann, Anja ist Verkäuferin dort. „Wenn alle Ossis auf einen Schlag aus München abhauen würden, würde die ganze Stadt zusammenbrechen“, sagt Oli. „Post, Bahn, Supermarkt , Metzgerei – wir sagen immer: Wir leisten Aufbauhilfe West.“

Die Anfangszeit in München war für Rico nicht immer leicht. Die Fahrgäste haben den Sachsen schlecht verstanden, manche sagten sogar zu ihm: „Gibt’s jetzt nur noch Türken und Ossis hier?“

Der Stammtisch war Anlaufstelle für die vielen anderen Ossis, die in München niemanden kannten. „Wir sind gesellige Menschen. Da stellt man sich, wenn man in eine Wohnung einzog, im Haus vor. Hier im Westen gibt es das nicht“, sagt Rico. „Es dauert, bis ein Bayer auftaut“, meint Oli. „Aber wenn du ihn erstmal hast, dann richtig.“

Lange betrieb Rico einen Ostalgie-Laden in Pasing, mit Nudossi und Rotkäppchen-Sekt, dann musste er zumachen und wanderte ins Internet ab. Am 6. November wird das Geschäft wiedereröffnet. „Ilando“ wird es heißen, wie sein Internet-Versand, die Abkürzung von „Im Land Ost“. Neben den Ost-Lebensmitteln, gibt es auch DVDs mit den alten Defa-Filmen, Modell-Eisenbahnen und Kunsthandwerk aus dem Erzgebirge. „Das erinnert uns an unsere Kindheit, das ist ein Stück Heimat. Und die Knusperflocken schmecken einfach nach wie vor gut. “

Die meisten hier fahren oft heim. Jeanette, die 33-jährige Augenoptikerin aus Cottbus, sagt: „Ich mag München, ich habe hier einen guten Job, ich liebe das Umland. Aber je älter ich werde, umso stärker wird auch das Heimweh.“

Oli fühlt sich seiner Heimat Rostock über die Jahre entfremdet. „Hier in München merke ich zwar, dass ich viel eher auf Leute zugehe, die auch aus dem Osten sind. Aber in Rostock jammern sie einfach zu viel, immer heißt es: Ihr mit eurem vielen Geld. Wenn ich bei der Rückfahrt die Silhouette von München sehe, dann bin ich zuhause.“ Oli ist Sechzger-Fan, damit ist er hier einsam. Rico hält zu Dynamo Dresden – und wenn Bayern spielt, weiß er auch, für wen er ist. „Was soll ich machen? Mein Sohn ist sieben und natürlich Bayernfan.“

Der einzige echte Bayer am Tisch ist Schorsch. Schorsch heißt eigentlich Christian und ist nach dem Trabi-Schorsch aus „Go, Trabi, Go“ benannt. Bis vor Kurzem fuhr er nämlich noch Trabi, schweren Herzens, sagt er, „hab ich ihn verkoofen müssen“. Worte wie „verkoofen“ statt verkaufen und „zwee“ statt zwei streut er wie selbstverständlich in sein Niederbairisch ein. Der Grund für seine Ostanwandlung ist Anja, seine Frau, die noch sächsischer spricht als er bairisch. Kennen gelernt haben sie sich vor zehn Jahren auf der Wiesn, im Winzerer Fähndl. „Wir haben uns rein sprachlich am Anfang schon schwer verstanden“, sagt Schorsch und grinst.

Anjas Eltern waren am Anfang nicht begeistert, dass die Tochter einen Wessi heiraten will. „Mein Schwiegervater hat viel gejammert und immer alles auf die Wessis geschoben. Es hat lange gedauert, bis das besser wurde.“

Umgekehrt ging es einfacher. Schorschs Familie hat in Anja gleich die Frau gesehen, die mit ihm durch dick und dünn geht. „Ich halte das Geld zusammen“, sagt sie. „Das können Ossis vielleicht einfach besser.“ In einem aber ist und bleibt Schorsch astreiner Wessi: „Was Fußball angeht: Ich bin nur rot“, sagt er und bemüht die Dichtkunst: „Willst du Dynamo oben sehen, musst du die Tabelle drehen.“ Er fängt sich sofort einen Konter von Rico ein. „ Jaja, scheiß’ auf Frau und Kind, Hauptsach’ Bayern gewinnt!“

Oli findet, zwanzig Jahre nach dem Mauerfall verschwinde der Unterschied zwischen Ossi und Wessi immer mehr. „Letztlich kommt es ja auch nicht darauf an, wo du herkommst, sondern wie du auf die Menschen zugehst“, sagt er. Er gibt auch offen zu, dass ihm Manches früher lieber war. „In der DDR haben wir uns gegenseitig Sachen geliehen – hier musst du alles kaufen. Und wenn du jemandem einen Gefallen tust, fragt er: Was kriegst du dafür?“

Trotzdem: Verklären wollen sie die alte Zeit nicht, und zurück wollen sie sie auch nicht haben. „Ich könnte nicht mehr mit dem Zug nur um die Kirchturmspitze fahren“, sagt Rico. Wenn er die Bilder von den Menschen auf der Mauer sieht, kommen ihm die Tränen. „Das hat unser Leben so verändert. Es ist schon Wahnsinn, dass wir diese friedliche Revolution geschafft haben.“ Oli hat noch einen, aus seinem Buch: „Was ist Glück? Dass wir in der DDR leben! Und was ist Pech? Dass wir soviel Glück haben!“

Der Ostalgie-Laden „Ilando“ eröffnet am 6. November in der Friedrichshafenerstraße 9. Internetversand: www.ilando.de

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