"Wir könnten Millionen Menschen retten": Der Soziologe Jean Ziegler über den Hunger in der Welt

Der Schweizer Soziologe lehrte in Genf und an der Sorbonne in Paris. Für die UN war er Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und von 2009 bis 2019 Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrates, für den er bis heute als Berater tätig ist. Mit der AZ spricht er über Hunger, Tod und Liebe.
AZ: Herr Ziegler, Sie werden am Freitag 90 Jahre alt. Wie schauen Sie zurück auf diese lange Lebensspanne?
JEAN ZIEGLER: Seit Jahrzehnten ist jeder Tag ein reines unverdientes Wunder. Ich bin so unglaublich privilegiert: Morgens wache ich auf mit Blick auf den Mont Blanc, neben einer schönen leidenschaftlich geliebten Frau, der ich fast alles verdanke: die Bücher – und die Freude am Leben. Ich bin gesund, kann denken, habe Zugang zu großen Verlagen und kann gegen die fürchterlichen Missstände auf dieser Welt kämpfen.

Sie waren sowohl mit dem Revolutionär Che Guevara als auch mit dem Existenzialisten-Paar Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir befreundet. Wer hat Sie stärker beeinflusst?
Die Begegnungen mit allen drei waren Schlüsselerlebnisse. Sartre war ein unglaublich warmherziger, großzügiger, kluger und bescheidener Mann. Er hat mir das intellektuelle Rüstzeug für das Verstehen der Welt gegeben. Ich kam ja aus einer bürgerlichen, calvinistischen, mittelständischen Familie in der Deutsch-Schweiz und hatte keine Ahnung, was in der Welt passiert. Zudem hat mir Sartre den Weg in die große Verlagswelt geöffnet.
Inwiefern?
Ich war als kleiner Uno-Angestellter im Kongo, gleich nach der Ermordung Lumumbas 1961. Als ich Sartre erzählte, was ich dort erlebt habe, von den weißen Söldnern in Katanga, den Massakern von Mobutu, sagte er: "Darüber müssen Sie schreiben!" Also habe ich einen Artikel für seine Zeitschrift "Temps moderne" verfasst, das war das Wort Gottes auf Erden für die Linken. Simone de Beauvoir – sie war eine ziemlich kalte, hochintelligente Frau – hat meinen Text redigiert. Als sie meinen Geburtsnamen Hans Ziegler darunter gesehen hat, sagte sie: "Hans? Was ist das? Das ist doch kein Name!" Ich sagte, "auf Französisch heißt das Jean". So hat sie den Hans durchgestrichen und Jean hingeschrieben. Fortan habe ich als Jean Ziegler meine Bücher veröffentlicht - in großen Verlagen, zu denen Sartre mir die Tür geöffnet hat.
Und der Che?
Das ist etwas ganz anderes. Als Mitglied der kommunistischen Studentenbewegung Clarte war ich mit den Solidaritätsbrigaden in Kuba, Zuckerrohr schneiden, in den Anfangsjahren der Revolution. Abends aßen wir in der großen Küche des Hotels Habana libre. Da kamen oft Fidel Castro, Raul, Che und Armando Hart vorbei, um mit uns Europäern zu diskutieren. Bei der Weltzuckerkonferenz der Uno im April 1964 in Genf baten mich die Kubaner, bei der Organisation von Unterbringung und Transport ihrer Delegation mitzuhelfen. Sie hatten keine Botschaft und kein Konsulat. Zwölf Tage lang war ich der persönliche Chauffeur von Che Guevara. Er war ein unglaublich neugieriger, kluger Mann, der mir unaufhörlich Fragen stellte über die Sozialistische Internationale und den Schweizer Föderalismus und so weiter. Am Vorabend ihrer Abreise nahm ich allen Mut zusammen und sagte: "Comandante, ich will mit euch gehen." Che rief mich ans Fenster seines Hotelzimmers im achten Stock über der Bucht des Genfer Sees. Dort leuchteten die glitzernden Reklamen der Juweliere, der Versicherungen und Banken. Che sagte: "Siehst du diese Stadt da unten? Hier ist das Gehirn des Monsters. Hier bist du geboren. Hier musst du kämpfen." Er drehte sich um und ging weg. Ich war am Boden zerstört, weil ich glaubte, er nimmt mich für einen unnützen Kleinbürger, was wahrscheinlich auch der Fall war. Aber er hat mir das Leben gerettet.
Soziologe Jean Ziegler: "Obwohl ich ruiniert war, hat sich der Kampf gelohnt"
Warum?
Weil ich als Dienstverweigerer keine militärische Ausbildung hatte – und wohl bald in irgendeinem Straßengraben in Bolivien, Venezuela oder Guatemala verscharrt worden wäre. Zudem habe ich von ihm die Strategie meines Kampfes: die subversive Integration, also einzutreten in die bestehenden Institutionen und zu versuchen, ihre eigene Kraft von innen für die eigenen Ziele zu gebrauchen. Das habe ich getan – bis hin zur Uno. Das gibt dem Leben Sinn und das verdanke ich dem Che.
Allerdings hat Ihr Kampf Sie finanziell ruiniert.
Ja. Meine Waffen sind die Bücher. Mit ihnen habe ich gegen das Schweizer Bankgeheimnis gekämpft, welches das Blutgeld der Diktatoren aus der Dritten Welt und die Steuerplünderung der umliegenden Staaten schützt – und bei den Bank-Halunken unglaubliche Vermögen schafft. Darüber habe ich geschrieben. Und auch darüber, wie die Schweizer Banken die jüdischen Gelder, die während des Dritten Reiches in der Schweiz versteckt worden waren, nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr zurückgeben wollten. Wenn die Nachkommen kamen und sagten "Ich weiß, mein Vater hat ein Konto bei der UBS in Zürich gehabt, gebt mir bitte das Geld", wollte der Schweizer Bankbeamte eine Sterbeurkunde sehen. In Auschwitz gab es keine Sterbeurkunden! Die Schweizer Banken haben Abermilliarden jüdisches Guthaben in ihre eigene Reserve integriert. Unter amerikanischem Druck mussten sie dann einen kleinen Teil herausgeben.
Das schildern Sie in "Die Schweiz, das Gold und die Toten". Richtig heftig wurde der juristische Gegenwind bei "Die Schweiz wäscht weißer”. Wegen dieses Buches, in dem es um Geldwäsche geht, wurden Sie neun Mal verklagt – auf insgesamt 6,6 Millionen Franken.
Von Großbanken, Vermögensverwaltern und Diktatoren. Und ich habe alle neun Prozesse verloren. Aber obwohl ich ruiniert war, hat sich der Kampf gelohnt. Der Gerichtssaal hat Transparenz geschaffen. Die Bankiers mussten ihre Klage ja begründen – und ich konnte antworten. Sie haben ihre Maske verloren, das war grandios! Aber es war persönlich eine bedrohliche Zeit.
Was ist geschehen?
Mein Auto wurde zwei Mal sabotiert, wegen Todesdrohungen standen meine Familie und ich lange Zeit unter Polizeischutz.
"Die rechtsextreme israelische Regierung entmenschlicht die Opfer", sagt Jean Ziegler
Sie kämpfen seit Jahrzehnten gegen den Hunger auf der Welt. Verbessert hat sich allerdings nichts. Ist das der Grund dafür, dass Sie jetzt Ihr 1999 zuerst erschienenes Buch "Wie kommt der Hunger in die Welt" aktualisiert haben? Als Mahnung - und als Vermächtnis?
Ganz genau, weil sich die Lage in diesen 25 Jahlren noch verschlimmert hat. Laut der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen FAO verhungert alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren. Dabei könnte unser Planet laut World Food Program locker zwölf Milliarden Menschen ernähren – also fast das Doppelte der Weltbevölkerung. Wäre der Zugang zu Nahrung nicht allein vom Markt und der Kaufkraft der Konsumenten, sondern durch ein universelles Menschenrecht geregelt, wäre der Hunger morgen aus der Welt geschafft. Aber 85 Prozent der Nahrungsmittel auf der Welt – also Produktion, Transport, Versicherungen, Silohaltung, Preisbildung, Verteilung – werden von einem Dutzend transkontinentaler Großkonzerne kontrolliert. Die entscheiden jeden Tag, wer isst und lebt – und wer Hunger hat und stirbt. Diese kannibalische Weltordnung müssen wir zerstören.
Es sind nicht nur Konzerne, die Hunger instrumentalisieren. Manche Staaten setzen ihn gezielt als Waffe ein, wie man bei Russlands Blockade der ukrainischen Häfen gesehen hat.
Und jetzt in Gaza! Was dort passiert ist fürchterlich! Dazu zwei grundsätzliche Aussagen: Am 7. Oktober hat die dschihadistische Terrororganisation Hamas Menschen in Süd-Israel angegriffen, getötet oder als Geiseln genommen. Das ist ein schreckliches Verbrechen, das durch nichts zu rechtfertigen ist. Dann hat Israel reagiert, mit dem Kampf gegen die Hamas, was legitime Selbstverteidigung ist – aber gleichzeitig mit einem rassistischen Völkermord an der Zivilbevölkerung. Im Ghetto von Gaza sind 2,8 Millionen Menschen eingeschlossen auf 365 Quadratkilometern. Es ist das am dichtesten besiedelte Gebiet der Welt und das größte Gefängnis unter offenem Himmel. Gegen diese Bevölkerung führt Israel einen grausamen Vernichtungskrieg, 43.000 Menschen sind bereits umgekommen, 10.000 werden unter den Trümmern vermutet, 280.000 sind schwerstverletzt. Über 70 Prozent von diesen Opfern sind Frauen und Kinder – und die rechtsextreme israelische Regierung sagt: "Wir kämpfen gegen Tiere." Sie entmenschlicht die Opfer. Hinzu kommen die Hungerblockade und die Blockade von Wasser und Medikamenten. Der Hunger als Kriegswaffe tötet schon jetzt Tausende, vor allem Kinder. Die Ärzte des Internationalen Roten Kreuzes operieren und amputieren ohne Anästhesie. Doch der Völkermord geht jeden Tag weiter, und die Uno ist vollständig machtlos – genau wie die Amerikaner und die EU-Staaten, die Waffen und Munition liefern. Das ist der Totalzusammenbruch des humanitären Völkerrechts und der Uno. Jeder vernünftige Mensch müsste sofort einen Waffenstillstand und ein Ende der Hungerblockade verlangen.
Jean Ziegler: "Dieses universelle Menschenrecht wird von der EU mit Füßen getreten"
Andernorts zwingt der Hunger Menschen ihre Heimat zu verlassen, er ist aber kein Asylgrund. Wer vor Wüstenbildung und Dürre flieht, wird deshalb bald an den Außengrenzen der Europäischen Union abgewiesen. Was halten Sie vom Migrationspakt der EU?
Das ist ein schreckliches, menschenverachtendes Politikum. Das Asylrecht ist ein universelles Menschenrecht, eine Zivilisationserrungenschaft. Artikel 13 der Uno-Menschenrechtscharta besagt, dass jeder, der in seinem Land verfolgt oder gequält wird oder wegen Hunger nicht überleben kann, das Recht hat, eine Grenze zu überschreiten und in einem anderen Staat um Schutz und Asyl nachzusuchen. Dieses universelle Menschenrecht wird von der EU mit Füßen getreten, und der Kampf um seine Wiederherstellung ist eine der Primäraufgaben der europäischen Zivilgesellschaften.
Was müsste sich ändern, dass der Hunger aus der Welt verschwindet?
Der Hunger ist menschengemacht und kann morgen von den Menschen aus der Welt geschafft werden. Jedes Kind, das heute verhungert, wird ermordet! Um das zu ändern, müssen wir Reformen durchsetzen: ein Verbot der Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel wie Reis, Mais und Getreide; eine Streichung der Auslandsschulden der ärmsten Länder, damit Afrikas Bauern staatliche Subventionen in Landwirtschaft, Dünger und Bewässerung erhalten können; ein Ende des Agrar-Dumpings, also, dass der Überschuss aus Europa in Afrika zu billigen Preisen angeboten wird, mit denen die Bauern dort nicht konkurrieren können; und schließlich muss das Land-Grabbing beendet werden: 41 Millionen Hektar wurden den afrikanischen Bauern von Großkonzernen und Hedgefonds durch Korruption und Zwang weggenommen, um dort für den Export in die Industrieländer oder Saudi-Arabien Blumen oder Gemüse zu produzieren. All das ließe sich morgen Früh problemlos verbieten. Würden wir erwachen und kämpfen, könnten wir das von unseren Staaten erzwingen – und damit Millionen von Menschen das Leben retten.
"Die unendliche Kraft der Liebe besiegt den Tod", sagt Ziegler
Zurück zum Anfang unseres Gesprächs: In einem Alter, in dem andere die Ruhe suchen, scheinen Sie immer noch zu brennen. Werden Sie Ihren Kampf eigentlich je aufgeben?
Nein! Weil ich daran glaube, dass das Leben einen Sinn hat und ich nicht zufällig auf dieser Welt bin. Von Jean Jaurès, dem Begründer der sozialistischen Bewegung in Frankreich, der am 31. Juli 1914 in Paris ermordet wurde, stammt der Satz: "Die Straße ist gesäumt von Leichen, aber sie führt zur Gerechtigkeit." Das heißt, dass auch die menschliche Geschichte einen Sinn hat: Sie führt zur Menschwerdung des Menschen. Mit 90 Jahren bin ich alt, voller Dankbarkeit und auch voller Angst vor dem Tod – aber trotzdem zuversichtlich.

Was gibt Ihnen diese Zuversicht?
Ich halte mich an das Beispiel Dietrich Bonhoeffers, des Berliner Theologen, der 1941 von der Gestapo verhaftet und im Konzentrationslager Flossenbürg inhaftiert wurde, weil er sich öffentlich gegen die Judenvernichtung der Nazi-Monster gestellt hat. Am 8. April 1945, dem Vorabend seiner Hinrichtung hat er einen letzten Text geschrieben: "Morgen werde ich hingerichtet, aber das ist nicht das Ende meines Lebens. Ich werde erwartet." Das glaube ich auch. Es scheint mir unmöglich, dass mein Leben im Nichts endet. Die unendliche Liebe, die auf dieser Welt ist – sei es die von Eltern für ihre Kinder, sei es die des Guerilleros, der sein Leben für die Gerechtigkeit hingibt, oder die des politischen Gefangenen, der zu Tode gefoltert wird, seine Gefährten aber nicht verrät – muss eine Quelle haben. Wie man das nennen kann, weiß ich nicht. Aber sicher ist, dass diese Kraft der unendlichen Liebe den Tod besiegt. Ich glaube an die Auferstehung.
Hinweis: Die aktualisierte Neuauflage von Jean Zieglers "Wie kommt der Hunger in die Welt?" ist gerade bei Penguin erschienen und kostet 13 Euro.