Wie steht es um den Grundrechteschutz zu Corona-Zeiten?

Susanne Breit-Keßler im Interview. Sie wacht im "Dreierrat Grundrechteschutz" über die Entscheidungen der Staatsregierung in der Corona-Krise. 
Natalie Kettinger |
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Susanne Breit-Keßler
Anke Roith-Seidel Susanne Breit-Keßler

AZ-Interview mit Susanne Breit-Keßler: Die Regionalbischöfin im Ruhestand ist Vorsitzende des Bayerischen Ethikrates und gehört dem "Dreierrat Grundrechteschutz" an.

AZ: Frau Breit-Keßler, im Kampf gegen die Ausbreitung von Covid-19 hat der Ministerpräsident erst drastische Einschränkungen der Freiheitsrechte verkündet – und dann die Einrichtung des "Dreierrats Grundrechteschutz", dem Sie sowie die beiden ehemaligen OLG-Präsidenten Christoph Strötz und Clemens Lückemann angehören. Ein Feigenblatt-Gremium?
SUSANNE BREIT-KESSLER: Nein. Der Ministerpräsident, die Staatsregierung und unser Parlament zeigen, dass sie wissen, was sie tun. Sie sorgen dafür, dass außer ihnen selbst auch noch andere Menschen konstruktiv und kritisch mitdenken. Herr Lückemann, Herr Strötz und ich sind unabhängige Berater. Außerdem: Um uns als Feigenblatt zu kostümieren, wäre uns drei unsere Lebenszeit zu schade. Sie müssen schon mit uns rechnen.

Was genau sind Ihre Aufgaben?
Wir reflektieren und kommentieren die Entscheidungen der Staatsregierung in rechtlicher und ethischer Hinsicht. Zudem geben wir Anregungen, wie Entscheidungen gegebenenfalls korrigiert oder ergänzt werden können. So haben wir etwa empfohlen, die Zeitungsläden offen zu halten, damit Menschen sich mit soliden journalistischen Informationen eindecken können und nicht auf Fake News im Netz hereinfallen. Wir haben darum gebeten, die Ausländerbeiräte zur besseren Information unserer Mitbürger und Mitbürgerinnen mit Migrationshintergrund heranzuziehen. Wir konnten in Einzelfällen klären, welche Kontakte innerhalb des gesteckten Rahmens möglich sind.

"Unser Gesundheitssystem ist hoffnungslos überfordert"

Sie haben die Beschränkungen in einem Interview als "erforderlich und angemessen" bezeichnet. Allerdings werden zunehmend Stimmen laut, die genau das kritisch hinterfragen. Eins der Argumente: Es gebe bislang keine belastbaren Daten darüber, wie viele Menschen tatsächlich infiziert sind und wie hoch die Letalität und damit die Gefährlichkeit des Virus wirklich ist. Was entgegnen Sie?
Natürlich weiß derzeit niemand, wie viele Menschen tatsächlich infiziert sind – dazu müsste ein signifikant großer Teil der Bevölkerung durchgetestet sein. Die bekannte Zahl der registrierten Infizierten und ihre Verdoppelung im Zeitraum von anfangs zwei, derzeit fünf Tagen reicht aber aus, um zu wissen: Unser Gesundheitssystem ist hoffnungslos überfordert, wenn wir nicht dafür sorgen, dass diese Steigerung verlangsamt wird. Es ist doch sonnenklar: Wenn zu viele Menschen gleichzeitig krank werden, können nicht alle gleichermaßen gut versorgt werden. Das kostet Menschenleben! Und ich möchte den Kritiker sehen, der die Verantwortung dafür übernähme, dass bestimmte Menschen nicht mehr behandelt werden.

Die Umsetzung der Maßnahmen hat am vergangenen Wochenende für einigen Ärger bei der Münchner Bevölkerung gesorgt: Rentner wurden von Polizeibeamten von Parkbänken vertrieben, ein Paar mit Baby von einer einsamen Wiese im Hirschgarten.
Wenn es Beschwerden gibt, muss man ihnen selbstverständlich nachgehen. Soweit ich weiß, war aber entweder die Abstandsregel von 1,5 bis zwei Meter nicht eingehalten oder das Verbot missachtet worden, sich zu "lagern". Das heißt, Bewegung im Freien ist möglich, das Niederlassen auf Freiflächen aber nicht. Die Gefahr, dass Menschen dazukommen und die Abstände dann auch hier zu gering sind, ist einfach zu groß. Gruppenbildung ist ein tödliches Risiko.

Kritisiert wird auch, dass die Regelungen in Bayern strenger sind als in vielen anderen Bundesländern. Hier darf man sich privat nur mit Angehörigen des eigenen Hausstandes umgeben – andernorts ist es eine beliebige zweite Person. Ist das nicht unfair, schließlich gibt es Menschen, die alleine leben?
Man muss schon genau lesen, was in der Verordnung über Infektionsschutzmaßnahmen steht. Unterstützungsbedürftige Menschen dürfen begleitet, alte, kranke und Menschen mit Einschränkungen dürfen besucht und Sterbende begleitet werden.

Ab 19. April neue Bewertung der Ausgangsbeschränkungen?

Wie lange kann man der Gesellschaft diese Beschränkungen zumuten?
Die geltenden Beschränkungen sind zunächst bis 19. April befristet. Rechtzeitig vorher muss auf der Grundlage der Entwicklung entschieden werden, was danach gilt.

Welche Maßnahmen, die es in anderen Ländern schon gibt, würden Sie definitiv nicht mittragen?
Ich halte es für dramatisch, wenn wie in Ungarn das Parlament sich quasi selbst abschafft und alle Macht dem Ministerpräsidenten überlässt – unbegrenzt und unbeschränkt. Das zerstört die Demokratie.

Welchen Einfluss haben Sie – sollte es zum Dissens kommen – tatsächlich auf die Staatsregierung?
Das werden wir sehen, wenn es dazu käme. Wir haben uns vorbehalten, uns jederzeit öffentlich zu äußern.

Wie stehen Sie zu einer Schutzmasken-Pflicht beim Einkaufen oder in den Öffentlichen Verkehrsmitteln?
Als Teil einer möglichen Exit-Strategie, die aber erst noch entwickelt werden muss, hätte ich nichts dagegen. Es ist ja unrealistisch zu glauben, am Tag x ist alles genauso wie vorher. Wir werden sicher noch länger mit viel Umsicht leben müssen, um niemanden – auch uns selbst nicht – zu gefährden.

Über Adidas: "Egoismus ist das absolut falsche Zeichen"

Tragen Sie selbst eine Schutzmaske im Supermarkt?
Bisher nicht. Ich habe mir aber Masken besorgt und werde sie künftig – hoffentlich richtig – nutzen.

Ist es moralisch vertretbar, wenn Großkonzerne wie Adidas keine Miete mehr zahlen?
Adidas hat sich inzwischen entschuldigt und wird weiter Miete zahlen. Alles andere wäre auch moralisch verwerflich. Egoismus ist das absolut falsche Zeichen. Zeiten wie diese brauchen Solidarität.

Was vermissen Sie in diesen Tagen am meisten?
Gottesdienst feiern in der kommenden Karwoche und an Ostern. Und: das Essengehen mit Freunden.

Was tun Sie als erstes, wenn die Ausgangsbeschränkungen eines Tages aufgehoben werden?
Wenn gewünscht, einen Gottesdienst halten für die, die in dieser Zeit einen lieben Menschen verlieren und Abschied nehmen möchten. Essengehen mit Freunden.

Lesen Sie hier: Corona - Virale Virologen im AZ-Fakten-Check

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