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"Wie kann man morgens aufstehen und töten?": So geht es den Menschen in Israel nach dem Hamas-Terror

David Bing hat das Massaker der Hamas am 7. Oktober in seinem Kibbuz überlebt – und will bleiben. Andere leben seitdem zur Sicherheit im Hotel. So geht es den Menschen in Israel. Die AZ hat sich vor Ort ein Bild gemacht.
von  Anne Wildermann
"Die Hamas-Terroristen wussten alles", sagt David Bing. Seit dem Überfall trägt er sein Sturmgewehr immer bei sich.
"Die Hamas-Terroristen wussten alles", sagt David Bing. Seit dem Überfall trägt er sein Sturmgewehr immer bei sich. © Anne Wildermann

Kfar Aza/Jerusalem - Reife Orangen hängen an einem kleinen Baum. Einige sind bereits heruntergefallen, liegen auf dem Boden und verschimmeln. Allerdings wird niemand kommen, um die restlichen zu pflücken. Denn bis auf zehn Menschen lebt niemand mehr im Kibbuz Kfar Aza im Süden Israels, der nur wenige Kilometer von der Grenze zum Gaza-Streifen entfernt ist.

Ein langer Zaun mit Nato-Stacheldraht sollte die Bewohner schützen. Doch letztlich war er kein Hindernis für die Terroristen. Ursprünglich lebten in der Siedlung 750 Menschen – doch seit dem 7. Oktober ist hier alles anders, wie in ganz Israel.

Israels "schwarzer Samstag": Ein Betroffener berichtet

David Bing steht auf dem Rasen und erzählt, wie er den "schwarzen Samstag" erlebt hat. Das Auffälligste an ihm: Sein großes und langes Sturmgewehr, das er über der Schulter trägt, sein Finger stets in der Nähe des Abzugs. Der Mann ist jede Sekunde bereit, falls es die Situation erfordern sollte. Denn am 7. Oktober war es Bing nicht, wie viele andere seiner Freunde und Nachbarn im Kibbuz. Dennoch ist es ihm wichtig zu erwähnen, dass es völlig neu für ihn sei, die ganze Zeit mit einer Waffe herumzulaufen.

Hinter dem gebürtigen Niederländer, der seit 30 Jahren in Kfar Aza lebt, steht ein Haus, davor ein großes Banner mit sieben Fotos von Männern und ihren Namen. In weißen Lettern ist dort geschrieben: "Das sind die heldenhaften Mitglieder der zivilen Wache, die getötet wurden, während sie den Kibbuz verteidigten".

In diesem Gebäude werden die Gewehre der Bewohner verwahrt. Doch sie zu holen, sei nicht möglich gewesen, erinnert sich Bing. Seine Erzählungen werden immer wieder durch laute und vibrierende Artillerie-Geschütze unterbrochen. Plötzlich ist sogar das Knattern eines Helikopters zu hören. In Panik verfällt Bing nicht, denn im Kibbuz und drum herum sind zahlreiche israelische Militärs unterwegs, die ihm ein zusätzliches Gefühl von Sicherheit geben.

Hamas-Terroristen überfallen Kibbuz in Israel: "Wir hatten keine Chance!"

"Die Hamas-Terroristen wussten alles. Wo wir unsere Waffen lagern, wo wir wohnen und wie viele wir sind. Sie haben uns von vier Seiten angegriffen. Wir hatten keine Chance." Dabei geht Bing in die Hocke und zeichnet mit einem Stöckchen die Attacken auf seinen Kibbuz in der Erde nach. Das Vorgehen der Terroristen wirkt laut seiner Schilderungen strategisch.

Doch woher hatten sie die Informationen? Die Antwort ist tragisch und simpel zugleich: Einige Menschen aus dem Gaza-Streifen haben in Kfar Aza gearbeitet, beispielsweise als Anstreicher oder Erntehelfer. "Ich habe 20 von ihnen auf meinen Feldern beschäftigt. Das wird nie wieder passieren", sagt Bing. Jetzt muss er mit zwei Nachbarn selbst die Felder bestellen. Aktuell bauen sie Avocados an, nächste Woche wollen sie Kartoffeln anpflanzen.

Was Bing nach wie vor nicht begreifen kann: "Wie kann man morgens aufstehen und töten?" Er meint damit die Terroristen, die in einem unvorstellbaren Blutrausch gewesen seien und ein Massaker angerichtet haben. "Sie kamen mit Messern und Äxten." Um die Bewohner aus ihren Häusern zu locken, haben sie Brandsätze hineingeworfen und schließlich auf sie geschossen, sobald sie in Todesangst aus den Gebäuden rannten.

"Wir werden hierbleiben und alles wieder aufbauen", sagt Bing. Es klingt wie ein Schwur zu sich selbst und den Opfern. Zu ihnen zählen mittlerweile auch die beiden Männer Alon Lulu Schamris und Jotam Haim. Sie waren einst Bings Nachbarn, wurden am 7. Oktober von der Hamas entführt und starben kürzlich versehentlich durch die Hand israelischer Soldaten im Gaza-Streifen, in Schedschaija.

Einige Hamas-Opfer wurden ins Hotel evakuiert

Ortswechsel. Shachar Shalom macht sich erstmal keine Gedanken darüber, was mit seiner Moschava (genossenschaftliche Siedlung) Kfar Mimon, ebenfalls in Südisrael, vier Kilometer von der Grenze zu Gaza entfernt, passiert. Schließlich ist die Gegend offiziell Kriegsgebiet. Er lebt seit mehreren Wochen mit seiner Frau und den gemeinsamen sechs Kindern im Fünf-Sterne-Hotel Leonardo Plaza in Jerusalem. Der evakuierte Mathelehrer ist froh darüber, dass alle wohlauf sind.

Gegen 6.30 Uhr in den frühen Morgenstunden des 7. Oktober hörte er die Salven, nahm seine Familie und brachte sie in einen Schutzraum. "Das Problem war, dass wir nicht wussten, was genau passiert ist."

Shachar Shalom mit seiner kleinen Tochter Noya im Hotel.
Shachar Shalom mit seiner kleinen Tochter Noya im Hotel. © Foto: Anne Wildermann

Die Familie harrte bis 10.30 Uhr aus, bis zwei Helikopter zu hören waren, die auf dem örtlichen Friedhof landen wollten. An Bord: israelische Soldaten. Doch wie aus dem Nichts sprangen 60 Hamas-Terroristen hervor, die sich offenbar auf dem Friedhof versteckt hatten, und ohne Zögern auf Maschine und Besatzung schossen. "Der Helikopter verlor Treibstoff, der Pilot wollte notlanden, doch zuvor konnten noch 50 Soldaten abspringen. Als der Letzte draußen war, feuerten die Terroristen eine Panzerbüchse auf den Helikopter, der sofort explodierte."

Vier Stunde dauerte der Kampf zwischen Soldaten und Terroristen. "Es ist ein Wunder, dass die Soldaten zu uns gekommen sind. Wäre das nicht passiert, hätten die Terroristen unsere Moschav angegriffen." Laut Nir Kaidar, Generaldirektor des sozialökonomischen Forschungsinstituts Taub Center in Jerusalem, sind Stand 6. Dezember knapp 70 Prozent der evakuierten Israelis in Hotels untergebracht und 45 Prozent von ihnen in privaten Unterkünften wie Airbnb oder bei Verwandten. Mittlerweile liegt die Zahl der Evakuierten unter 120.000. Für einen Hotelaufenthalt zahlt die israelische Regierung durchschnittlich 5000 Euro pro Monat.

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