Wie ist die Lage in Afghanistan?

Gewalt, Gefallene und Korruption: Afghanistan-Lage unter Kontrolle? Heute beschäftigt sich das Kabinett mit dem Thema - und verlängert zum letzten Mal den Bundeswehr-Einsatz dort
von  dpa

Berlin - Viel ist in den vergangenen Tagen über die neue Außenpolitik der Bundesregierung geredet worden, über eine stärkere Einmischung in die Krisenbewältigung – notfalls auch mit Soldaten. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen legt heute im Kabinett ihren Fortschrittsbericht für Afghanistan vor. Die Ministerrunde will den Einsatz dort ein letztes Mal verlängern und gleichzeitig die Weichen für neue Missionen, etwa in Mali, stellen. Am Dienstag konnte sie sich ein Bild davon machen, was die Bundeswehr jetzt schon alles leistet. Erstmals besuchte sie das Einsatzführungskommando der Bundeswehr in einem Waldstück bei Potsdam, wo die Fäden aller 13 Auslandseinsätze zusammenlaufen.

Per Video wurden die Kommandeure der fünf größten Einsätze in die Operationszentrale zugeschaltet, um der Ministerin Bericht zu erstatten. Klagen gab es keine. Glaubt man dem Chef der 3100 deutschen Soldaten in Afghanistan, Jörg Vollmer, ist die Kälte das größte Problem, mit dem die Soldaten derzeit zu kämpfen haben: Temperaturen um die 20 Grad unter dem Gefrierpunkt und 50 Zentimeter Schnee. „Der Winter ist zurückgekehrt“, meldete Vollmer. Dennoch: „Dem Kontingent geht es gut, es gibt keine besonderen Vorkommnisse.“

So entspannt es bei der Videokonferenz zuging – die Lage am Hindukusch ist immer noch besorgniserregend. An diesem Mittwoch beschließt das Kabinett den Fortschrittsbericht Afghanistan zum Jahr 2013, der zwar diplomatisch formuliert ist, aber bei genauer Lektüre wenig Anlass zum Optimismus bietet. Als Erfolg wird schon gewertet, dass die Taliban „bisher in den entscheidenden urbanen Regionen nicht die Initiative übernehmen können“. Im Klartext: Dass es ihnen bislang nicht gelungen ist, den Krieg dauerhaft in die Städte zu tragen.

Das weckt Erinnerungen an die Zeit der Sowjet-Besatzung. Die Rote Armee schaffte es ebenfalls, die urbanen Zentren und die wichtigsten Verkehrsadern unter Kontrolle zu halten, während ländliche Gebiete von den Mudschaheddin dominiert wurden.

80 Gewalttaten pro Tag

Auch andere Angaben im Fortschrittsbericht – dessen Titel vor diesem Hintergrund leicht irreführend wirken kann – sind alarmierend. So verzeichneten die afghanischen Sicherheitskräfte in den ersten elf Monaten 2013 rund 4600 Gefallene – doppelt so viele wie im Vorjahreszeitraum. Angesichts dessen wirkt die Aussage der Bundesregierung, wonach 80 Prozent der Afghanen in „ausreichend kontrollierbaren“ Gegenden leben, überraschend. Landesweit sank die Zahl der Angriffe und Anschläge leicht, blieb mit 27 800 sogenannten sicherheitsrelevanten Zwischenfällen in den ersten elf Monaten aber weiterhin auf einem hohen Niveau.

Im Jahr zwölf des Nato-Kampfeinsatzes wurden demnach im Schnitt mehr als 80 Gewalttaten verzeichnet – pro Tag. Die Zahl der sogenannten Binnenvertriebenen stieg auf einen Rekordwert: 590 000 Afghanen sind im eigenen Land auf der Flucht. Einen Rekordwert gab es im vergangenen Jahr auch bei der Anbaufläche von Schlafmohn, aus dem Rohopium und Heroin gewonnen wird. Und weiterhin ist Afghanistan eines der korruptesten Länder der Welt. Diplomatisch heißt es in dem Bericht: „Die Entschlossenheit der afghanischen Regierung, zum Beispiel bei der Bekämpfung der Korruption, (ist) der Größe der Aufgaben bisher nicht angemessen.“

Auch bei der Menschenrechtslage – und dort besonders bei der Lage von Frauen und Mädchen – sieht die Bundesregierung Defizite. Passend dazu forderte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch am Dienstag Präsident Hamid Karsai dazu auf, ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz nicht zu unterzeichnen, das den Schutz von Frauen bei häuslicher Gewalt einschränken würde.

Zwar gibt es auch Erfolgsmeldungen vom Hindukusch, auf die die Bundesregierung verweist – etwa das oft bemühte Beispiel, dass Millionen Mädchen zur Schule gehen. In vielen Bereichen ist das Erreichte aber weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. So hat sich das Pro-Kopf-Einkommen zwischen 2002 und 2011 zwar auf 1400 US-Dollar verdoppelt. Damit ist Afghanistan aber immer noch eines der ärmsten Länder der Welt – trotz westlicher Milliardenhilfen.

Zusammen mit dem Fortschrittsbericht wird das Kabinett am Mittwoch zum letzten Mal die Verlängerung des Kampfeinsatzes in Afghanistan beschließen. Gleichzeitig wird die Bundeswehrtruppe im westafrikanischen Mali aufgestockt. Für Kritiker des Mali-Einsatzes ist die Afghanistan-Mission ein mahnendes Beispiel. Die beiden Einsätze sind allerdings kaum vergleichbar. In Afghanistan ging es in den vergangenen zwölf Jahren für die Bundeswehr darum, selbst für Sicherheit zu sorgen und die Taliban zu bekämpfen. In Mali bilden die EU-Truppen malische Streitkräfte im sicheren Süden des Landes aus. Mit der Bekämpfung islamistischer Rebellen im Norden des Wüstenstaats hat die Bundeswehr nichts zu tun. Dennoch ist unklar, was in Afrika noch alles auf die Soldaten zukommen wird. Die Entscheidung über eine deutsche Beteiligung an dem EU-Einsatz in Zentralafrika steht in Kürze an. Von der Leyen bekräftigte am Dienstag: „Europa hat ein großes Interesse, dass in Afrika Stabilität und demokratische Verhältnisse herrschen.“

 

 

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