Interview

Wie fälscht man einen Pass, Herr Botschafter? Rüdiger von Fritsch im AZ-Interview

Rüdiger von Fritsch war oberster deutscher Diplomat in Moskau und Warschau. Was weniger bekannt ist: Vor 50 Jahren half er seinem Cousin und zwei Freunden bei der Flucht aus der DDR – mit spektakulären Methoden.
von  Natalie Kettinger
Rüdiger von Fritsch war fünf Jahre lang Botschafter in Moskau.
Rüdiger von Fritsch war fünf Jahre lang Botschafter in Moskau. © imago

München – Er ist Botschafter im Ruhestand, Sachbuch-Autor und ein beliebter Talkshow-Gast: Rüdiger von Fritsch war unter anderem oberster deutscher Diplomat in Russland und Polen. Was niemand wusste, als er sich für den Auswärtigen Dienst bewarb: 1974 hatte er drei jungen Männern zur Flucht aus der DDR verholfen. In diesen Tagen jährt sich die riskante Aktion zum 50. Mal. Rüdiger von Fritsch hat sein Buch darüber deshalb neu aufgelegt – und mit der AZ über die Ereignisse von damals gesprochen.

AZ: Herr Botschafter a.D., wann haben Sie zuletzt einen Pass gefälscht?
RÜDIGER VON FRITSCH: 1988. Also: nicht wirklich gefälscht. Aber, sagen wir: Ich habe damals etwas gemogelt.

Wie bitte? Durch Ihr Buch ist bekannt, dass Sie 1974 Reisepässe manipuliert haben, um Ihrem Cousin Tom und zwei seiner Freunde bei der Flucht aus der DDR zu helfen. Aber was war 1988?
Damals lebten wir im sozialistischen Polen und erwarteten unser viertes Kind. Die Bedingungen für eine Geburt dort waren katastrophal. Deshalb entschied sich meine Frau, in Deutschland zu entbinden. Anschließend mussten wir das Kind "re-importieren" und es dafür in unsere Diplomatenpässe mit einem Foto eintragen lassen. Also habe ich den neugeborenen rothaarigen Sohn sofort fotografiert, habe seine Geburtsurkunde und unsere Pässe eingepackt und bin zur Passstelle des Auswärtigen Amtes in Bonn gefahren. Alles wunderbar – nur das Foto hatte ich leider in Süddeutschland liegengelassen.

Und dann?
Bin ich zu einem guten alten Freund in Bonn gegangen, der auch gerade ein Baby hatte: ein schwarzhaariges Mädchen, wie sich auf dem Farbfoto, das schließlich im Pass landete, leicht auch daran erkennen ließ, dass die Kleine ein rosa Bändchen am Arm hatte. Das war eigentlich keine Fälschung, es stimmte nur nicht ganz mit dem überein, was wir vorgaben: dass jenes Kind unser rothaariger Sohn sei. Aber das hat jahrelang keinen Grenzbeamten gestört.

"Ich habe alles ausprobiert, was man als Schüler im Kopf hat: Kartoffeldruck, Linolschnitt, heißes Ei"

1974 haben Sie richtig gefälscht, unter anderem mit Hilfe von Radiergummis. Wie sind Sie damals vorgegangen?
Erst haben wir in westdeutschen Pässen, die uns Freunde überlassen hatten, die Originalfotos gegen Bilder der drei Fluchtbereiten ausgetauscht und die Stempel der Behörden darauf nachgeahmt. Die eigentliche Herausforderung bestand darin, einen Transitstempel der bulgarischen Grenzbehörden in den Pässen anzubringen, der den Anschein erweckte, dass die Drei am Tag vor ihrer Flucht als "westdeutsche Hippies" per Autostopp nach Bulgarien eingereist waren und nun wieder in die Türkei ausreisen würden. Diesen Stempel galt es zu fälschen.

Blick in die "Fälscher-Werkstatt": der Radiergummi-Stempel, Bastlermesser und Farben.
Blick in die "Fälscher-Werkstatt": der Radiergummi-Stempel, Bastlermesser und Farben. © privat

Was war so knifflig daran?
Der Stempel hatte in etwa die Größe einer Streichholzschachtel und war ziemlich kompliziert aufgebaut: mit kleinen kyrillischen Buchstaben und einem winzigen Auto. Ich habe über mehrere Monate versucht, eine Methode zu finden, wie sich dieser Stempel imitieren lässt, und alles ausprobiert, was man als Schüler so im Kopf hat: Kartoffeldruck, Linolschnitt, heißes Ei. Das funktionierte alles nicht. Schließlich bin ich auf diese milchigen und von der Konsistenz her sehr feinen Radiergummis gekommen. In die habe ich mit Bastlermessern, wie man sie im Modellbau verwendet, den Stempel nachgeschnitten, der überdies auch noch zwei Farben hatte, oben blau und unten lila. Am Ende haben wir so einen Stempel, der uns sehr gut erschien, in die Pässe gedruckt.

"Sergej Lawrow wäre vielleicht auch ein guter Passfälscher geworden"

In einem unserer ersten Interviews haben Sie davon erzählt, dass der russische Außenminister Sergej Lawrow während wichtiger Gespräche gerne kalligrafiert hat. Haben Sie da manchmal leise in sich hineingegrinst, weil Sie ja ähnliche Fähigkeiten zu haben scheinen?
Eher andersherum: Sergej Lawrow wäre vielleicht auch ein guter Passfälscher geworden, wenn er gewollt hätte. Aber wer weiß, was er in seinem Leben schon so alles gemacht hat...

Eigentlich war die Flucht der Drei am 7. Juli 1974 geplant – dem Tag des Finales der Fußball-WM in Deutschland. Sie und Ihr Bruder wollten sich mit Tom und seinen Freunden im "sozialistischen Bruderstaat" Bulgarien treffen und ihnen die gefälschten Pässe übergeben. Dann sollte das Trio damit ausreisen. Warum dieses Datum?
Wir hatten uns als Zeitpunkt der Ausreise der drei Flüchtlinge nicht nur den Tag, sondern auch die Uhrzeit des Endspiels ausgesucht. Genau da sollten sie ihre gefälschten Pässe an der Grenze zur Kontrolle vorlegen. Unsere Überlegung war, dass in diesem Moment selbst bulgarische Grenzbeamte durch Fußball abgelenkt sind. Zunächst nahm alles einen guten Verlauf – bis mein Bruder und ich tags zuvor selbst nach Bulgarien einreisten und feststellten, dass die bulgarischen Behörden im letzten Moment die Farbe der Einreisestempel geändert hatten. Sie waren nicht mehr blau-lila-längsgeteilt, sondern grün-rot-quergeteilt. Damit hatten wir drei falsche gefälschte Pässe im Gepäck.

"Wir haben einen Großteil der Fälschungen in München durchgeführt"

Sie haben trotzdem nicht aufgegeben.
Nein – und wie sich erweisen sollte, war dieses Scheitern unsere Rettung. Was wir bis dahin nicht gewusst hatten, erfuhren wir erst in den 14 Tagen zwischen dem ersten und dem zweiten Versuch: dass auch die bulgarischen Grenzbehörden in ihren Stempelfarben damals bereits fluoreszierende Pigmente verwendeten, die im UV-Licht leuchten. Wären die Flüchtlinge also mit den ersten Pässen an die Grenze gekommen, wären sie entdeckt worden. Nun war es unsere Aufgabe, an entsprechende Stempelfarbe zu kommen. Mein Bruder ist als erstes in ein Münchner Stempel-Geschäft gegangen – wir haben einen Großteil der Fälschungen in München durchgeführt, weil er dort studierte – und hat nach fluoreszierender Farbe gefragt. Der Verkäufer hat ihn angeschaut, als wolle er Pässe fälschen. Das ging also nicht.

Die Rettung waren Textmarker.
Ja, die waren damals gerade neu auf den Markt gekommen – und sie enthielten genau solche Stoffe. Also haben wir in großer Zahl Leuchtmarker gekauft, sie mit dem Hammer zertrümmert, aus den kleinen Filzkissen im Inneren möglichst viel Farbe herausgepresst und diese mit unserer verrührt.

Konspiratives Treffen im tschechoslowakischen Karlsbad: Rüdiger von Fritsch (2.v.r) mit seinem Cousin Tom (r.) sowie dessen Freunden Thomas (l.) und Bernd (2.vl.).
Konspiratives Treffen im tschechoslowakischen Karlsbad: Rüdiger von Fritsch (2.v.r) mit seinem Cousin Tom (r.) sowie dessen Freunden Thomas (l.) und Bernd (2.vl.). © privat

Der zweite Anlauf war dann erfolgreich. Die Drei reisten – dank der nun fluoreszierenden gefälschten Pässe – ungehindert in die Türkei aus. Sie und Ihr Bruder haben sie über Griechenland und Italien in die Bundesrepublik gebracht. Damals waren Sie 20 Jahre alt – hätten Sie heute ebenso viel Mut?
Es war für beide Seiten gefährlich: für die Flüchtlinge, die eine Freiheitsstrafe in Bulgarien oder nach einer Abschiebung in der DDR riskierten – und für uns ebenso, wären wir aufgeflogen. Das war uns bewusst. Deswegen war der Grundsatz, unsere Flucht so zuverlässig wie möglich und zugleich so wenig riskant wie möglich zu organisieren. Da gehörte natürlich Mut dazu – aber in der Abwägung erschien es uns das Richtige zu sein, es zu riskieren. Hinzu kam natürlich eine gewisse Leichtigkeit der Jugend, in der man eher bereit ist, so etwas zu tun.

"Die Geschichte ist bei Sicherheitsüberprüfungen nie bekannt geworden"

Was hätten Sie getan, wenn Ihre Söhne im gleichen Alter mit einem solchen Fluchtplan zu Ihnen gekommen wären?
Ich hoffe, ich hätte moralisch richtig entschieden und mich so verhalten wie unser Vater, den wir im letzten Moment einbeziehen mussten, weil wir in Geldnot waren. Er sagte instinktiv: Ihr macht das Richtige, dafür habe ich euch erzogen, ich unterstütze euch.

Der Tag der Flucht jährt sich am 22. Juli zum 50. Mal. Werden Sie an diesem Datum etwas Besonderes zu fünft unternehmen?
Aus den drei Flüchtlingen, meinem Bruder und mir ist ein Freundeskreis erwachsen, der bis heute eng verbunden ist. Wir treffen uns regelmäßig und waren dieses Jahr für eine Dokumentation über die Flucht mit einem Fernsehteam in Bulgarien. Für den 22. Juli ist nichts Besonderes geplant – aber innerlich werden wir sicher ganz eng miteinander verbunden sein.

Sie waren im Auswärtigen Dienst – war diese Episode Ihres Lebens Ihren Arbeitgebern bekannt, als Sie eingestellt wurden?
Diese Geschichte ist lange Zeit nicht erzählt worden, was letztlich drei Gründe hatte: Erstens wollten wir nicht, dass dieser – ja sehr gute – Flucht-Weg bekannt wird. Zweitens standen die drei jungen Flüchtlinge sogleich vor einer neuen Herausforderung: Sie mussten sich, getrennt von Familien und Freunden, in der westdeutschen Wirklichkeit zurechtfinden und sollten diesen Weg so unbeschwert wie möglich gehen. Und drittens hatten wir Brüder uns nach westdeutschen Gesetzen strafbar gemacht und wollten auch unseren weiteren Weg nicht belasten. Interessanterweise ist die Geschichte auch bei den zahlreichen Sicherheitsüberprüfungen, denen ich als Beamter und Diplomat unterzogen wurde, nie bekannt geworden.

Wie kann das sein?
Das liegt daran, dass eine entscheidende Frage bei den Sicherheitsüberprüfungen nicht vorkommt, und zwar diese: Gibt es noch etwas, von dem Sie glauben, es uns in Kenntnis unserer Interessenlage noch sagen zu müssen?

"Es fällt mir sehr schwer zu verstehen, dass der Schrecken der Diktatur derart ausgeblendet wird"

Und wie waren die Reaktionen, als Sie Ihr Buch 2009 zum ersten Mal herausbrachten?
Es gab zwei interessante Reaktionen: Der ehemalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher, der das Buch seinerzeit mit vorgestellt hat und schon im Ruhestand war, sagte spontan: "Wenn wir das bei Ihrer Einstellung gewusst hätten, hätte ich Sie sofort ins Ministerbüro geholt. Da brauchen wir immer kreative Leute." Außerdem habe ich den Personalchef des Auswärtigen Amtes aus der Zeit meiner Einstellung gefragt, was es bedeutet hätte, wenn er das gewusst hätte. Er sagte: "Ich bin mir nicht sicher, ob wir sie genommen hätten. Wir sprechen von der Mitte der 80er Jahre, als wir versuchten, mit den Ländern des sozialistischen Lagers eine Politik der Annäherung und Entspannung zu führen – und Sie hatten demonstrativ gegen diese Länder gehandelt."

Die Neuausgabe von Rüdiger von Fritschs Buch "Endspiel 1974. Eine Flucht in Deutschland" ist im Aufbau-Verlag erschienen und kostet 22 Euro.
Die Neuausgabe von Rüdiger von Fritschs Buch "Endspiel 1974. Eine Flucht in Deutschland" ist im Aufbau-Verlag erschienen und kostet 22 Euro.

Die Flucht hatte Folgen: Einer der Freunde hat seinen Vater nicht mehr lebend gesehen, weil er die Familie in der DDR ja nicht einfach besuchen konnte. Ein Bekannter kam in Ostdeutschland als vermeintlicher Fluchthelfer ins Gefängnis. Können Sie vor dem Hintergrund alldessen die Ostalgie verstehen, die nun mancherorts um sich greift?
Es fällt mir sehr schwer zu verstehen, dass der Schrecken der Diktatur derart ausgeblendet wird und man sich im Rückblick in der gemütlichen Ecke der vermeintlichen Vorzüge jener Zeit einzurichten versucht. Dass uns nicht mehr bewusst ist, welche Unterdrückung, welche Freiheitsberaubung, welche totale Einschränkung von Pressefreiheit, welche absolute Überwachung es vielfach gegeben hat – und dass nur die Anpassung ein Leben unter dem Radar erlaubte. Das gilt es immer wieder in Erinnerung zu rufen und auch deshalb ist es mir ein Anliegen, diese Geschichte zu erzählen.

 

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