Werteunion, BSW und Dava: Sorgen die Splitterparteien für Weimarer Verhältnisse?

München – Drei neue Parteien wollen zur Bundestagswahl im kommenden Jahr antreten. Die Gründung des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), der geplante Antritt der Werteunion unter Ex-Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen und auch die Dava-Partei mit Verbindungen zur rechtspopulistischen AKP in der Türkei könnten die Regierungsbildung erschweren. Dazu kommen die schwächelnde SPD sowie FDP und das gleichzeitige Erstarken der AfD. Wie wirkt sich das auf das Parteiensystem in Deutschland aus? Ist das sogar eine Gefahr für die Demokratie?
Für den Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München, Andreas Wirsching, sind die Parteigründungen ein "Krisensymptom für das bundesdeutsche Parteiensystem". Das bürgerlich-liberale Milieu zwischen FDP und Grünen ist dem Historiker zufolge gespalten. Auch die Teilung des konservativen Lagers zwischen Union und AfD sei zu beobachten. "Dadurch entsteht eine Fragilisierung des Parteiensystems, die mehr an die Weimarer Republik als an die alte Bundesrepublik erinnert", sagt der Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte an der LMU zur AZ.
Parallelen zur Weimarer Republik: Auch damals zersplitterte das Parteiensystem
In der Weimarer Republik sind Liberale und Konservative laut Wirsching "erodiert". Einerseits seien die Liberalen fast verschwunden, andererseits hätten Konservative in der Deutsch-Nationalen Volkspartei (DNVP) das politische System der ersten deutschen Demokratie bekämpft. Letztlich habe man dadurch auch Hitlers NSDAP gestärkt.
Eine Zersplitterung von Parteien habe es vor allem bei den Reichstagswahlen 1928 und 1930 gegeben, sagt Wolfram Pyta, Leiter der Abteilung für Neuere Geschichte am Historischen Institut der Universität Stuttgart, zur AZ. Der Experte beschäftigt sich mit den politischen Gruppierungen in der Weimarer Republik.
Zahlreiche kleine Splitter- und Sonderparteien entstehen in den Jahren vor der Machtergreifung
1928 und 1930 saßen insgesamt 15 verschiedene Parteien im Parlament, darunter eine Fülle von Splitter- und Sonderparteien wie die "Christlich-Nationale Bauern- und Landvolkspartei" (CNBL), eine Partei der Währungsgeschädigten ("Volksrechtspartei") und später auch die "Konservative Volkspartei" (KVP). "Das lag aber vor allem daran, dass es keine Fünf-Prozent-Hürde gab", erklärt Pyta.

Diese wurde erst 1953 eingeführt. Sie sorgte dafür, dass 1961 nur noch drei Fraktionen im Deutschen Bundestag vertreten waren: Union, SPD und FDP. Bis zum Einzug der Grünen, 22 Jahre später, hat sich dieses System laut Pyta bewährt und für reibungslose Regierungsbildungen gesorgt.
"Das ist ein System der Stabilität, das die Regierungsfähigkeit garantiert." Doch 2024 sitzen wieder fünf Fraktionen und zwei Gruppierungen im Berliner Reichstagsgebäude – und bald könnten es noch mehr sein. "Das ist für die Deutschen ein Lernprozess", meint der Historiker Wirsching. Ein vielfältiges Parteiensystem sei für viele ungewohnt.
Historiker Wolfram Pyta: "Der Zuliefererbetrieb, auf den sich die Parteien verlassen konnten, ist abgeschmolzen"
Wie es zu dieser Entwicklung kam? Eine Rolle spielt Pyta zufolge die verloren gegangene Milieubindung der Parteien, die es lange – gerade in der Weimarer Republik – gab. "Viele Wähler haben bestimmte Parteien stets gewählt – egal wer an der Spitze war." Bis auf wenige Ausnahmen hätten die Parteien selten eine "Führungspersönlichkeit" in den Vordergrund gestellt. "Die NSDAP war die erste Partei, die eine solche Persönlichkeit ins Schaufenster gestellt hat." Dadurch konnte sie auch Wähler aus anderen Milieus mobilisieren, so Pyta.
Dem Historiker Wirsching zufolge ist damals ein "Großteil der demokratischen Führungselite" früh verstorben und teilweise auch ermordet worden. Der Experte erinnert unter anderem an den Tod von Gustav Stresemann und an den durch einen Rechtsextremisten erschossenen liberalen Politiker Walther Rathenau. Auch darunter habe das System gelitten.
Bis heute ziehen CDU und CSU Wähler aus dem Spektrum der Zentrumspartei und der Bayerischen Volkspartei an – genauso wie die SPD Facharbeiter und Gewerkschaftler anzieht, meint der Experte Pyta. Doch bis auf "kümmerliche Reste" seien die Milieus inzwischen "verdunstet". "Wir haben eine völlige Auflösung. Der Zulieferbetrieb, auf den sich die Parteien verlassen konnten, ist abgeschmolzen." Deshalb setzen die Parteien dem Forscher zufolge mittlerweile auch mehr auf Führungspersönlichkeiten.
Politiker müssen heute mehr Führungsstärke zeigen – Historiker Wirsching: Scholz hätte "dominanter" auftreten müssen
Das ist auch für Spitzenpolitiker eine Herausforderung. Vor allem, wenn sie zudem ihre Stellung innerhalb der Partei durch Mitgliederbefragungen legitimieren lassen und deswegen einen Wahlkampf in der Partei führen müssen. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz konnte sich dabei 2022 erst im dritten Anlauf in einer Mitgliederbefragung durchsetzen. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hätte vor allem in der jetzigen Krisenzeit, wie Wirsching meint, die Chance gehabt, an Zustimmung zu gewinnen.
"Ich bin davon überzeugt, dass der Bundeskanzler diese Chance hatte, wenn er seine Richtlinienkompetenz stärker ausgespielt hätte." Seit der Amtszeit von Konrad Adenauer (CDU) sei es die Aufgabe des Kanzlers gewesen, auch zwischen den Parteien zu moderieren. "Doch die Frage ist, ob es nicht auch andere Möglichkeiten durch ein dominanteres, führendes Auftreten gegeben hätte."
Experte widerspricht: "Da könnte Gott am Ruder der SPD sein und alles bliebe schwierig"
Für Michael Koß vom Zentrum für Demokratieforschung der Leuphana Universität Lüneburg hat das wenig mit Führungsstärke zu tun. "Es ist wirklich ein strukturelles Dilemma, in dem sich die etablierten Parteien befinden", sagt der Forscher zur AZ. "Ich möchte jetzt nicht blasphemisch sein, aber da könnte Gott persönlich am Ruder der SPD sein und alles bliebe schwierig. Selbst mit den Übervätern der SPD, Willy Brandt oder August Bebel, wäre das so."
Außerdem habe es die Richtlinienschwäche auch unter Angela Merkel und Gerhard Schröder gegeben. Bei den nicht vorhandenen Schnittmengen der Ampelregierung "müsste man da jetzt permanent zaubern", meint Koß. "Sobald die CDU die Regierung übernimmt, wird sie den gleichen Shitstorm am Hals haben wie die SPD." Dieser "permanente Shitstorm" sei laut dem Politikwissenschaftler auch der "Prozentmacher" für die AfD. "Dadurch kann die AfD die ganze Zeit Authentizität reklamieren, ohne dabei etwas beweisen zu müssen."
Union nach links gerückt? Werteunion will "Repräsentationslücke" schließen
Wie genau Forscher aus rechtskonservativen Denkfabriken zur Veränderung des Parteiensystems stehen? Politikwissenschaftler Werner J. Patzelt sprach mehrmals von einer sogenannten "Repräsentationslücke". Das CDU-Mitglied ist Direktor einer Bildungseinrichtung in Brüssel, die dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán nahesteht.
Ihm zufolge sei die CDU unter Merkel zu weit nach links gerückt, dann habe die AfD ursprüngliche CDU-Positionen besetzt und jetzt habe die Union Probleme, wieder weiter nach rechts zu rücken, weil die Rechtspopulisten diese Positionen jetzt als ihre ausgeben. Parteien wie die Werteunion versuchen demzufolge, die "Repräsentationslücke" zu schließen.
Das Ende der Volksparteien: Parteiensystem in Deutschland könnte vielfältiger werden
Noch ist allerdings unklar, wie hoch die Zustimmung zur Werteunion in der Bevölkerung überhaupt ist. Am Samstag soll die Partei erst einmal in Bonn gegründet werden. Trotzdem müssen Abgeordnete akzeptieren, dass das Parteiensystem auf lange Sicht vielfältiger wird. "Von der Wirkung her würde ich das allerdings nicht so gelassen sehen, weil das durchaus eine politische Destabilisierungsgefahr birgt", so der Historiker Wirsching.
Auch ein vielfältiges Parteiensystem wie in den Niederlanden oder Italien könnte langfristig entstehen. Dort sitzen derzeit jeweils 15 Parteien in den Parlamenten. Die Regierungsbildung ist schwieriger geworden. Sie dauert länger und die Kabinette brechen auch schneller auseinander. In Italien gab es seit der Staatsgründung 67 Regierungen. In Deutschland hingegen nur 24.