„Wenn wir unser Haus nicht mehr verlassen, haben sie ihr Ziel erreicht“
Der Trauma-Experte Dr. Christian Lüdke erklärt, warum die ganze Welt mit Paris trauert, was in den Überlebenden vorgeht und warum wir uns nicht verstecken sollten.
Paris - Paris steht nicht allein. Millionen Menschen auf der ganzen Welt haben ihre Trauer und ihr Mitgefühl in den vergangenen Tagen zum Ausdruck gebracht.
AZ: Herr Dr. Lüdke, was macht ein solcher Terroranschlag mit einer Stadt, mit einer Nation?
Christian Lüdke: Das ist nicht nur ein Angriff auf die Menschen, sondern auf die Seele dieser Stadt. Das grundlegende Sicherheitsgefühl, das für uns so wichtig ist, wurde massiv erschüttert.
Auch beim 11. September wurde quasi die Seele von New York angegriffen. Sind die Terrorangriffe aus Ihrer Sicht vergleichbar?
Es geht nicht um die Opferzahl. Niemand hat bis zum 11. September gedacht, dass so etwas in New York passieren könnte. Wir sehen jetzt immer wieder: Es gibt etwas, was wir uns nicht vorstellen konnten. Die Terroristen versuchen nicht nur, Menschen zu treffen, sondern sie gehen in das Herz einer Stadt. Hier sehe ich Parallelen. Auch dass wir jetzt eine Schicksalsgemeinschaft bilden.
Die ganze Welt trauert mit Paris. Wie erklären Sie sich die enorme Anteilnahme so vieler Menschen?
Terror ist nichts mehr, was fernab in der Welt passiert. Jeder Mensch kann jederzeit und überall Opfer eines Terroranschlags werden. Wir haben das etwa in Ägypten gesehen, wo Menschen am Strand erschossen wurden. Der Terror ist für uns sehr nah gekommen. Das erklärt die unglaubliche Anteilnahme. Aber auch durch die Medienberichterstattung erleben wir den Terror fast in Echtzeit. Dadurch nimmt uns das emotional viel mehr mit.
Das heißt, wir trauern einerseits um die Opfer, andererseits haben wir Angst, dass es uns selbst treffen könnte?
Jeder Mensch hat eine Schutz-Illusion um sich. Das heißt, Dinge wie Terror – das passiert anderen, aber mir nicht. Wenn dann aber Freunde oder Verwandte betroffen sind, kann das ein Trauma bewirken.
Was versteht man unter einem Trauma genau?
Das Kennzeichen eines Traumas ist, dass man ein nahes Todeserlebnis hatte. Sprich: Ich habe Todesangst oder ich bekomme mit, wie andere Menschen sterben. Ein Trauma kann man in gewisser Weise mit einer Schnittverletzung vergleichen.
Wie meinen Sie das?
Eine Schnittverletzung kann sehr weh tun. Sie heilt aber auch, wenn man die Wunde richtig versorgt – man reinigt sie, man desinfiziert die Stelle, klebt ein Pflaster drauf.
Wie können diese seelischen Wunden versorgt werden?
Man muss den Menschen gesicherte Informationen geben, sie aufklären, was geschehen ist und wie die nächsten Tage und Wochen aussehen werden. Auch Ruhe und Abstand sind wichtig – wie ein Pflaster. Man sollte sich nicht ständig mit den grauenhaften Bildern beschäftigen, weil die zu einer Konfrontation führen: Sie aktivieren das Erlebnis wieder, und das führt zu einer Re-Traumatisierung. Man braucht zudem stabile Menschen um sich herum, die nicht weinend zusammenbrechen, wenn mir etwas Schlimmes passiert ist. Stabile Personen vermitteln Hoffnung und Zuversicht.
In Paris herrscht derzeit statt Stabilität eine Schockstarre.
Die unmittelbar Betroffenen stehen erst mal noch unter Schock. Das kann zwischen drei Wochen und drei Monaten dauern, bis sie sich erholen. Was geht in den Menschen vor, die den Terroristen entkommen konnten? Man weiß aus vergleichbaren Fällen, dass manche Schuldgefühle entwickeln. Es gibt zweierlei Arten solcher Gefühle: das sogenannte Zuschauer-Schuldgefühl. Das bedeutet, ich habe es gesehen und konnte nichts dagegen tun. Oder eine Überlebensschuld: Ich habe es rausgeschafft, aber warum meine Freunde und die anderen nicht?
Wie kann man solchen Menschen helfen?
Man muss ihnen sagen, dass sie keine Schuld haben. Es ist eine Selbsttäuschung des Gehirns. Wenn wir unter Schock stehen und solch einen emotionalen Stress haben, dann verändert sich unsere Zeitwahrnehmung. Würde man die Betroffenen jetzt fragen, wie lange es gedauert hat, würden sie vermutlich länger schätzen als es tatsächlich war. Gefühlt hat das für sie vielleicht eine Stunde gedauert, tatsächlich waren es zehn Minuten. Da ich aber das Gefühl habe, dass es länger gedauert hat, werfe ich mir vor, dass ich nichts dagegen unternommen habe.
Einige sind geflohen, andere haben sich totgestellt.
Die Flucht ist ein ganz natürlicher Reflex. Unsere Intuition sagt uns drei Dinge: Fliehe, kämpfe oder erstarre. Das erste, was uns der Körper sagt, ist: abhauen. Wenn wir nicht flüchten können, kämpfen wir. Wenn ich weder fliehen noch kämpfen kann, kommt der Totstellreflex. Eine junge Frau hat sich über eine Stunde lang totgestellt. Sie hat unglaubliche Nervenstärke bewiesen. Das ist extrem mutig und extrem überlegt.
Die Deutschen fragen sich jetzt: Können wir uns noch frei bewegen, oder müssen wir auch in Angst leben?
Kann ich jetzt noch auf den Weihnachtsmarkt gehen? Meine Antwort: ja, klar. Es ist sogar wichtig für das allgemeine Sicherheitsgefühl. Sonst würden wir psychologisch den Terroristen recht geben. Wenn wir unser Haus nicht mehr verlassen, dann hätten sie ihr Ziel erreicht. Man muss hier wirklich nach vorne gehen, keine Panik haben. Das hilft auch der Bewältigung des Ganzen.
Frankreich hat begonnen, den IS zu bombardieren. Ist das auch eine Art Trauma-Bewältigung?
Es ist eine natürliche Reaktion, sofort wütend auf die Täter zu sein. Es ist aber auch ein wichtiges Zeichen, dass sich Frankreich nicht einschüchtern lässt. Das Schlimmste für die französische Bevölkerung wäre, untätig zu sein. Die Reaktion stärkt die Menschen, ihr verlorenes Sicherheitsgefühl.
Zur Person: Dr. Christian Lüdke ist Psychotherapeut (55) aus Essen und beschäftigt sich mit Traumata. Er hat kürzlich das Hörbuch „Wenn die Seele brennt“ über Krisenbewältigung veröffentlicht.
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