Was nun, Frau Ministerin?

Hartz IV kann nicht bleiben, wie es ist – so viel ist klar. Aber mehr auch nicht. Wie gründlich wird es umgebaut? Und: Muss es überhaupt bleiben? Die AZ stellt die große Debatte vor, die jetzt kommt
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So oder so? Arbeitsministerin Ursula von der Leyen muss das Hartz-IV-System umbauen.
AP So oder so? Arbeitsministerin Ursula von der Leyen muss das Hartz-IV-System umbauen.

Hartz IV kann nicht bleiben, wie es ist – so viel ist klar. Aber mehr auch nicht. Wie gründlich wird es umgebaut? Und: Muss es überhaupt bleiben? Die AZ stellt die große Debatte vor, die jetzt kommt

Ein Urteil mit Sprengsatz-Wirkung: Nach dem Hartz-IV-Spruch des Bundesverfassungsgerichts wird nun diskutiert, wie man es umsetzt – dabei geht es auch um die Frage, ob man an kleinen Stellschrauben dreht oder ob man am deutschen Sozialsystem ganz grundsätzlich etwas ändert. Die Zeit drängt.

Zuständig ist zuallererst Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU). „Die Ziele von Hartz IV waren im Grunde richtig, aber vieles ist hastig, schlampig und im Detail nicht fair gemacht worden.“ Inhaltlich setzt sie darauf, nicht so sehr über mehr Geld, sondern über mehr Sachleistungen (Schulranzen, Füller, Schulspeisung) nachzudenken. Bis Jahresende muss die Reform stehen. Von der Leyen: „Der Zeitdruck ist exorbitant.“

In Teilen der schwarz-gelben Koalition wird dagegen offen über eine Kürzung der Sätze nachgedacht, offen gefordert wurde es etwa von CDU-Arbeitnehmervertreter Peter Weiß – Karlsruhe habe nur eine durchschaubarere Berechnung gefordert. FDP-General Christian Lindner: „Wenn wir jetzt blind die Sätze erhöhen, werden immer weniger Menschen bereit sein zu arbeiten.“

Doch es wird auch über viel weitergehende Änderungen im Sozialsystem nachgedacht. CSU-Chef Seehofer fordert eine „Generalüberholung von Hartz IV“, FDP-Vize Andreas Pinkwart bringt das Modell des Bürgergelds ins Spiel; Sozialverbände, Linke und Grüne fordern eine Erhöhung des Grund-Hartz-IV-Satzes auf 420 Euro; SPD und DGB machen bei den Mindestlöhnen Druck, weil das Lohnabstandsgebot (arbeitende Menschen müssen besser dastehen als Hilfsempfänger) immer mehr aufgeweicht wird. Die AZ stellt vor, was im Gespräch ist. Anja Timmermann/ Kasanobu Serdarov

420 Euro Hartz IV

So sieht die Idee aus. Die seit langem am meisten genannte Zahl lautet 420: Also die Anhebung von Hartz IV auf 420 Euro für Erwachsene (und entsprechend für Kinder). Für diese Forderung existieren auch Modellrechnungen. Wer es will. Sozialverbände, Linke und Grüne. Was es bringt. Dies entspreche dem tatsächlichen Existenzminimum und berücksichtigte etwa auch den Bildungsbedarf von Kindern, wie jetzt von Karlsruhe gefordert, argumentieren die Befürworter. Darüberhinaus stärke es die Kaufkraft von sozial Schwachen und trage somit zu Konsum und Wachstum und Beschäftigung bei. Was es schadet. Vor allem dem Steuerzahler: Die Kosten betragen zehn Milliarden Euro, so eine Studie des IAB, das Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit. Die Zahl der Anspruchs-Berechtigten würde sich um zwei Millionen Menschen vergrößern, so Michael Feil, Autor der Studie, zur AZ. Er fürchtet „starke negative Arbeitsanreize“: Bis zu 200 000 Menschen könnten sich aus dem Arbeitsmarkt zurückziehen, weil sich arbeiten für sie nicht mehr lohnt – diese Kosten sind in den zehn Milliarden noch gar nicht drin. Wie realistisch ist es? Eine Erhöhung der Kinder-Sätze wird wohl kommen, weniger die der Erwachsenen.

Bürgergeld

So sieht die Idee aus. Alle Sozialleistungen wie Wohngeld und Kindergeld werden zu einer einzigen Leistung zusammengefasst – dem Bürgergeld. Wer arbeitslos ist, kriegt es ausbezahlt. Wer arbeitet, bekommt es von der Steuerlast abgezogen. Wer es will. Die FDP fordert das Bürgergeld schon länger. Nach dem Hartz-IV-Urteil macht sich Andreas Pinkwart, stellvertretender FDP-Vorsitzender, wieder dafür stark. Was es bringt. „Weniger Verwaltung und mehr Geld für die Bürger“ sei der größte Vorteil des Bürgergelds, sagt Jörg Rohde, arbeitsmarktpolitischer Sprecher der FDP-Landtagsfraktion, zur AZ. Da das System der Sozialleistungen vereinfacht werde, könne man viel Geld bei der Verwaltung sparen. Kritiker halten aber dagegen, dass die Verwaltungskosten ohnehin vergleichsweise nur einen kleinen Anteil ausmachen. Was es schadet. Momentan gibt es zwar viele verschiedene Sozialleistungen – „aber die braucht es auch, um individuell auf viele Problemlagen einzugehen“, sagt Ingmar Kump vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle zur AZ. „Mit dem Bürgergeld könnte diese Individualität zu kurz kommen.“ Wie realistisch ist es? Wenig realistisch, da bis auf die FDP keine Partei das Bürgergeld fordert.

Grundeinkommen

So sieht die Idee aus. Jeder Bürger erhält ein bedingungsloses Grundeinkommen für die Existenzsicherung ohne Gegenleistung und ohne Bedürftigkeitsprüfung. Wer mehr Geld haben möchte, muss arbeiten. Wer es will. Die Idee ist nicht neu, ins Gespräch gebracht hat sie jetzt wieder Götz Werner, Gründer der dm-Drogeriekette. Was es bringt. Weniger Armut, dazu verbesserte Arbeitsbedingungen – weil Menschen nicht mehr unter unwürdigen Verhältnissen arbeiten müssten. Was es schadet. Kritiker glauben, dass viele Menschen nicht mehr arbeiten würden. In den 70er Jahren gab es Experimente in den USA. „Die Befürchtung, dass sich viele zur Ruhe setzen, ist nicht eingetreten“, sagt Ingmar Kump vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle. Wie realistisch ist es? Sehr unrealistisch, obwohl es bereits Schritte in die Richtung gibt wie Kindergeld und Grundsicherung im Alter.

Mindestlohn

So sieht die Idee aus. Bisher gelten Mindestlöhne nur in wenigen Branchen. Aber auch in anderen gibt es extrem niedrige Löhne, etwa im Wachgewerbe, der Gastronomie, der Leiharbeit und der Pflege. Denkbar wäre auch ein flächendeckener Mindestlohn. Die meisten Forderungen belaufen sich auf 7,50 Euro. Wer es will: Die Gewerkschaften, SPD, Grüne und Linke. Was es bringt: Schon heute werden rund zehn Milliarden Euro für „Aufstocker“ ausgegeben: Arbeitnehmer, die zusätzlich Geld beziehen, um auf Hartz-IV-Niveau zu kommen. Künftig werden es wegen der höheren Hartz-Sätze noch mehr. Dies könnte man sparen, wenn Arbeit besser entlohnt wird. Was es schadet: Im Niedriglohnbereich gehen viele Jobs verloren – das könnten dann neue Hartz-IV-Vollbezieher werden. Wie realistisch ist es? Nicht sehr – Schwarz-Gelb will nicht.

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