Interview

Warum kommt es jetzt zu Angriffen auf Politiker wie Giffey? Experte redet Klartext

Berlins Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD) wurde von einem Unbekannten verletzt, in Dresden eine Grünen-Politikerin bespuckt, kurz zuvor der SPD-Europaabgeordnete Matthias Ecke beim Plakatieren zum Wahlkampf krankenhausreif geschlagen - stehen wir vor einer neuen Verrohung der Gesellschaft? Die AZ hat mit dem renommierten Soziologen Heinz Bude über Gewalt gegen Politiker, Triggerpunkte und eine wichtige Forderung an die Babyboomer gesprochen.
von  Natalie Kettinger
Gewalt gegen Politiker hat viele Ausprägungen: In diesem Fall wurde ein Wahlplakat von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zur Europawahl am 9. Juni beschmiert und mit dem Schriftzug "Lügen" versehen.
Gewalt gegen Politiker hat viele Ausprägungen: In diesem Fall wurde ein Wahlplakat von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zur Europawahl am 9. Juni beschmiert und mit dem Schriftzug "Lügen" versehen. © imago

AZ: Herr Bude, ein SPD-Europapolitiker wird beim Plakatieren zusammengeschlagen, die grüne Bundestagsvizepräsidentin am Verlassen einer Veranstaltung gehindert. Die Fälle, in denen Politiker angegriffen werden, häufen sich. Ist unsere Demokratie in Gefahr?
HEINZ BUDE: Nein. Aber wir erleben eine Brutalisierung der Öffentlichkeit. Das ist aber nicht nur in Deutschland der Fall. Ich bin gerade in Wien und wenn Sie durch die Stadt gehen, ist eigentlich alles ziemlich in Ordnung: Es gibt einen funktionierenden Sozialen Wohnungsbau, eine gute Infrastruktur - und trotzdem wächst auch hier die Zustimmung zu den Blauen, den österreichischen Rechtspopulisten von der FPÖ.

Heinz Bude ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Kassel.
Heinz Bude ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Kassel. © imago

Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Viele Leute scheinen weder ein noch aus zu wissen, weil sie das Empfinden haben, dass die Zukunft völlig verbaut ist. Dieses Gefühl ist das Zentralproblem, das wir in allen unseren Gesellschaften haben. Denken Sie nur an die deutsche Autoindustrie: Es ist relativ klar, dass die Chinesen bei den Elektroautos besser und billiger sind als VW. Und noch verkauft VW die meisten Autos in China – aber es ist abzusehen, dass sich das nicht halten lassen wird. Verbaute Zukunft und bevorstehende Untergänge sind ein Potenzial, das sich in der Öffentlichkeit auf eine Weise Bahn bricht, dass Menschen nach einer solchen Tat zwar zu beruhigen sind – aber vorher nicht. Wir müssen uns damit befassen, wie man die Leute beruhigen kann, bevor sie in Wirrnis zuschlagen.

Aber es ist doch ein Unterschied, ob ich aus Unzufriedenheit Rechtspopulisten wähle – oder jemanden verprügle.
Zuzuschlagen ist eine Entbindung von subjektiven Affekten, die immer dann passiert, wenn Leute mit ihren Vorstellungen von dem, was getan werden muss, nirgendwo bleiben können. Auch, weil sie selbst nicht genau wissen, was getan werden muss. Die Absorptionsfähigkeit der Parteien hat abgenommen. Früher haben Volksparteien ein breites Spektrum bedient. Jetzt hat man das Gefühl, dass Parteien wie die Grünen – die einen Augenblick lang dachten, sie seien eine Volkspartei – sich doch als Milieu-Partei entpuppen. Auch die CDU/CSU, die in Umfragen immerhin noch auf 30 Prozent kommt, wird von anderen so angesehen, als sei sie eine Rechts- und keine inklusive Partei mit unterschiedlichen Strömungen. Für einige bedeutet das, dass es für ihre Ängste und Befürchtungen keinen politischen Ausdruck gibt, der sie in eine Art Ausfechtbarkeit bringen könnte. In bestimmten Situationen gibt es dann "Triggerpunkte", an denen die Leute ausrasten. Da funktioniert irgendetwas mit der Affektgebundenheit nicht mehr.

Wahlplakat von Matthias Ecke. Der SPD-Politiker war von vier Jugendlichen krankenhausreif geprügelt worden.
Wahlplakat von Matthias Ecke. Der SPD-Politiker war von vier Jugendlichen krankenhausreif geprügelt worden. © Robert Michael/dpa

Was ist die Ursache?
Ich glaube, das Grundproblem ist, dass es an persönlichem und öffentlichem Engagement bezüglich der Welt fehlt, in der wir leben. Dass man sagt: Es ist einiges ziemlich im Argen, wir gehen aber nicht dem Untergang entgegen; dass es auch kein Grund ist, nicht mit dem Leben weiterzumachen, selbst wenn wir es für wahrscheinlich halten, dass wir dem Untergang entgegengehen; dass es immer ein Morgen gibt, selbst wenn der Moment gefährdet ist. Darum geht es: um die Grundüberzeugung in die Bestandsfähigkeit unserer Welt und darüber, dass das Bestand haben kann, was wir mit Demokratie, Kapitalismus, Rechtsstaat meinen.

Soziologe Heinz Bude über Demonstrationen gegen Rechts: "Das war ein wahnsinnig wichtiges Signal"

Es ist noch nicht lange her, da sind deutschlandweit Hunderttausende für die Demokratie und gegen Rechtsextremismus auf die Straße gegangen. Warum ist das verebbt?
Ich glaube, es ging dabei vor allem um den Rechtsstaat. Die Leute hatten das Empfinden, da gibt es eine Partei, die unseren Rechtsstaat missachtet, indem sie Bürgern unseres Staates das Recht nehmen will, sich in Deutschland aufzuhalten. Das ging zu weit. Der Rechtsstaat ist Basis unserer Demokratie, eine Grundbedingung unseres Zusammenlebens. Das war ein wahnsinnig wichtiges Signal. Doch die Notwendigkeit, auf die Straße zu gehen, nimmt in dem Maße ab, in dem der Rechtsstaat seine Autorität wiederherstellen kann. Deshalb hadere ich jetzt nicht mit den Menschen.

Was müsste die Politik tun, um die aktuelle Eskalation einzudämmen?
Die Politik kann nicht viel tun, weil es sich eben um eine Brutalisierung der Öffentlichkeit handelt und Politik nur ein Agent derselben ist. Es gibt noch viele andere: Musik, Presse – und die Leute, die sich am Gartenzaun darüber unterhalten, was in unserer Gesellschaft los ist. Sie alle zusammen bilden die Öffentlichkeit. Das persönliche Umfeld spielt dabei eine große Rolle: mit wem im Bekanntenkreis man eigentlich noch reden kann, mit wem nicht und warum nicht. Warum kann man sich mit einer Freundin, die man seit 20 Jahren kennt, nicht mehr über Impfungen, Zuwanderung oder den Zustand der Bundesbahn verständigen? Die Politik kann die Öffentlichkeit nicht bestimmen, sie muss eher darauf reagieren.

Etwa 30 Prozent der Bevölkerung gehören zu den Babyboomern, über die Sie gerade ein Buch geschrieben haben. Diese zwischen 1955 und 1970 geborenen Menschen haben Krisen wie Aids oder Tschernobyl erlebt und gelernt, dass es trotzdem weitergeht. Warum führt das nicht zu mehr Gelassenheit in der Gesellschaft?
Das Buch ist ein Beitrag dazu, meiner eigenen Generation eine Selbstverständigung über ihre Rolle nahezubringen, auch nachdem der 60. Geburtstag vorbei ist. Mit 60 hat man noch gut 20 Jahre vor sich. In dieser Zeit kann man nicht einfach die Hände in den Schoß legen und glauben, man habe sein Werk vollbracht und es gäbe für einen selbst in der Öffentlichkeit nichts mehr zu tun. Das ist nicht der Fall. Meine Generation muss verstehen, dass ihr eine Autorität im Gespräch zwischen den Generationen zukommt, die womöglich eine Vorstellung über die Art und Weise unseres Zusammenlebens in die Waagschale werfen kann. Wir Boomer haben die Erfahrung gemacht, dass etwas endet – bei Tschernobyl, bei Aids – und dass die Dinge trotzdem weitergegangen sind und es sich lohnt, weiterzumachen.

Die Gesellschaft ist bunter geworden, sie ist nicht mehr nur von Männern bestimmt

Welche Boomer-Erfahrung könnte der Gesellschaft noch nützlich sein?
Meine Generation hat sich gefragt, wie der Judenhass in die Welt gekommen ist und wie Auschwitz passieren konnte. Warum schützt man seinen Nachbarn nicht? Was gibt den Ausschlag dafür, dass man bereit ist, das Morden hinzunehmen? Hier geht es um Grenzen: Man kann über viele Dinge reden, aber über manche wird nicht mehr verhandelt. Was die Frage der Demokratie betrifft, müssen wir in vielerlei Hinsicht verhandlungsbereit sein. Die Gesellschaft ist bunter geworden, sie ist nicht mehr nur von Männern bestimmt und nicht mehr nur eine Gesellschaft von Menschen, die lebenslang vollzeitlich beschäftigt sind. Sie besteht auch aus Leuten mit sehr verschiedenen Idealen der Lebensführung. Darüber muss man miteinander ins Gespräch kommen – und trotzdem gibt es rote Linien: Gewalt ist ein Monopol des Staates, aber kein Mittel der Politik.


An diesem Mittwoch diskutiert Heinz Bude mit seinem Kollegen Armin Nassehi in der Katholischen Akademie (Mandlstraße 23) über das Thema "Was hält unsere Gesellschaft zusammen?" Die Veranstaltung beginnt um 19 Uhr. Sie wird live gestreamt und ist unter www.youtube.com/@KatholischeAkademieinBayern/streams auch von außen abrufbar.

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