Warum der Freistaat vor 75 Jahren gegen das Grundgesetz stimmte: "Bayern will immer mehr"

AZ: Frau Aigner, was bedeutet Demokratie Ihnen ganz persönlich?
ILSE AIGNER: Sehr viel! Sie ist eine echte Gabe und war die letzten 75 Jahre eine derart stabile Grundlage für unser Land, dass man nur sagen kann: Hut ab vor den Verfasserinnen und Verfassern dieses wunderbaren Grundgesetzes! Aber es ist auch eine Aufgabe, an der Demokratie zu arbeiten. Wir merken schließlich immer mehr, dass sie unter Druck gerät.
Die Angriffe auf die SPD-Politiker Matthias Ecke, Franziska Giffey und mehrere Grüne sind keine Einzelfälle. In Bayern wurden vergangenes Jahr 1013 Straftaten gegen politische Amts- und Mandatsträger gezählt. Wie bedrohlich sind diese Übergriffe für die Demokratie?
Sie erschrecken mich sehr. Für hauptberufliche Politiker mag das zum Alltag gehören, aber es geht um die vielen Ehrenamtlichen, die sich neben ihrem Job engagieren und bei denen wir jetzt Gefahr laufen, dass sie sich ins Private zurückziehen. Das wäre ein großer Schaden für die Demokratie. Gerade diese breite politische Aktivität in der Bevölkerung schafft bei uns eine Stabilität, die es in anderen Ländern nicht gibt. Deshalb hoffe ich, dass im Falle derjenigen Täter, die man gefasst hat, schnellstmöglich Konsequenzen gezogen werden und es nicht erst in ein oder zwei Jahren ein Gerichtsurteil gibt. Das hätte Symbolwirkung.

Das klingt, als seien Sie nicht der Meinung, dass es unbedingt härtere Strafen bräuchte, wie sie nun einige fordern.
Ich weiß nicht, ob diejenigen, die solche Straftaten begehen, vorher ins Strafgesetzbuch schauen und sich davon abschrecken lassen. Entscheidend ist, dass sie möglichst schnell verurteilt werden und man rasch erfährt, was es heißt, sich nicht an die Regeln zu halten.
Ilse Aigner (CSU) über Hass in den Sozialen Medien: "Das macht etwas mit den Menschen"
Merken Sie in der CSU den befürchteten Rückzug ins Private bereits?
Ja, es gibt auch in der Nähe von München einen Bürgermeister, der sein Amt zurückgegeben hat, weil er es nicht mehr ausgehalten hat. Es herrscht ein extremer Druck und ich finde, dass die Sozialen Medien dabei eine große Rolle spielen: die Anonymität im Netz, die manche dazu verleitet, wüsteste Beschimpfungen über andere auszuschütten. Das macht etwas mit den Menschen. Deshalb müssen wir uns irgendwann einmal über die Frage unterhalten, ob man diese Anonymität und damit diese Verrohung nicht eingrenzen kann. Von den bösen Worten bis zur bösen Tat ist es immer öfter kein großer Schritt mehr, wie man mittlerweile merkt. Und auch in der politischen Auseinandersetzung gilt: Man darf sich argumentativ durchaus fetzen, den anderen aber nie herabwürdigen. Es geht um politische Mitbewerber, nie um Feinde.
Wie gehen Sie selbst mit Anfeindungen um?
Unterschiedlich – das hat etwas mit der langjährigen Erfahrung zu tun. Aber ich kann mich sehr gut daran erinnern, dass ich zu den Zeiten als Bundesministerin – und auch als Staatsministerin – massiv angegriffen wurde, und weiß deshalb, was es mit einem Menschen macht.
Was ist in Ihnen vorgegangen, als publik wurde, dass die AfD gerne gehabt hätte, dass ihr unter anderem wegen Volksverhetzung gesuchter Abgeordneter Daniel Halemba bei der konstituierenden Sitzung des Landtags verhaftet wird – um Ihnen den Schwarzen Peter dafür in die Schuhe zu schieben, weil Sie hätten zustimmen müssen?
Ich war gar nicht so überrascht, weil wir genau so etwas vermutet hatten. Deshalb haben wir Vorkehrungen getroffen und verfügt, dass niemand ohne Kontrolle in den Landtag kommt. Überrascht hat mich allerdings, dass sie das alles so offen zugegeben haben. Und auch die Aussage, dass sie mich bewusst diskreditieren wollten.
Das Grundgesetz wurde 1949 als Provisorium geschaffen. Ist es 75 Jahre später noch modern genug – und vor allem wehrhaft genug?
Da stehen Ewigkeitsgeschichten drin, die gar nicht unmodern werden können. Allein schon Artikel 1 – "Die Würde des Menschen ist unantastbar" – ist aktueller denn je. Wenn man ihn nicht schon hätte, müsste man ihn gerade jetzt erfinden. Ich finde es beeindruckend, welche Weitsicht die wenigen Mütter und vielen Väter hatten, als sie dieses Grundgesetz entworfen haben. Sprachlich würde man manches heute vielleicht anders formulieren, aber der Inhalt ist auch heute noch hochaktuell. Da habe ich größten Respekt!
Bayern hat dem Grundgesetz 1949 trotzdem nicht zugestimmt. Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf dieses Nein?
Bayern will immer mehr, damals mehr Eigenständigkeit der Länder, was etwas mit dem bayerischen Selbstverständnis als Staat mit großer Historie zu tun hat. Ehrlich gesagt hat man aber auch gewusst, dass die Zweidrittelmehrheit der westdeutschen Länder stand. Man konnte also gefahrlos dagegen stimmen, weil man wusste, es wird trotzdem Gesetzestext werden. Das kann man in den Protokollen von damals nachlesen. Man wusste schon: Man ist dabei.
"Deswegen haben wir ein Rechtsgutachten auf den Weg gebracht"
Heute sitzt die AfD im Bayerischen Landtag, mindestens vier Mitarbeitern ihrer Abgeordneten werden "verfassungsfeindliche Aktivitäten" vorgeworfen. Als das öffentlich wurde, haben Sie gesagt, es sei "inakzeptabel, dass wir uns Verfassungsfeinde ins Haus holen", und ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, um das Abgeordnetengesetz entsprechend zu ändern. Wie ist der aktuelle Stand?
Ganz einfach ist das nicht, weil es sich um bilaterale Arbeitsverhältnisse zwischen den Abgeordneten und deren Mitarbeitern handelt. Wir sind als Landtag nur "Vollzugsorgan" bei der Auszahlung ihrer Gehälter und können da nicht so einfach eingreifen. Deswegen haben wir ein Rechtsgutachten auf den Weg gebracht, inwieweit man einschreiten kann, wenn entsprechende Hinweise vorliegen – etwa, indem man die Auszahlung verweigert. Ich gehe davon aus, dass wir das Gutachten vor der Sommerpause bekommen werden.
Der Ton im Landtag ist seit dem Einzug der AfD 2018 deutlich rauer geworden. Ab dem 1. Juni droht Pöblern deshalb ein Ordnungsgeld von 2000 beziehungsweise – im Wiederholungsfall – 4000 Euro. Glauben Sie, das wird helfen?
Die Hoffnung stirbt zuletzt. Wir haben festgestellt, dass Rügen keinen wirklich beeindrucken. Deshalb die Ordnungsgelder, bei denen wir – also das Präsidium - auch auf Videobeweise setzen werden, um die Gesamtstimmung zu beurteilen und eventuell relevante Zwischenrufe.
Das Oberverwaltungsgericht in Münster hat soeben geurteilt, dass der Verfassungsschutz die AfD auch weiterhin als rechtsextremistischen Verdachtsfall einstufen und beobachten darf. Sind Sie erleichtert?
Es ist ein klares Zeichen, dass von Mitgliedern dieser Partei – und nicht nur von einzelnen – Grenzen überschritten werden. Deshalb ist es gut, die Instrumentarien des Rechtsstaates anzuwenden. Wobei das Urteil ja formal noch nicht rechtskräftig ist.
Auch bei der Europawahl droht ein Rechtsrutsch. Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund den Besuch von Ministerpräsident Markus Söder bei der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die Chefin einer postfaschistischen Partei ist?
Ich habe es sehr gut gefunden, dass er nach Rom gefahren ist. Es geht um gemeinsame Politik, die man in manchen Bereichen durchaus braucht – bei der Energieversorgung oder der Migration zum Beispiel. Klar ist aber, was auch EVP-Chef Manfred Weber sagt: Es muss ein klares Bekenntnis geben zu den europäischen Strukturen und ein Grundverständnis hinsichtlich der Ukraine. Diese Voraussetzungen hat Meloni erfüllt und deshalb muss man mit ihr im Gespräch bleiben. Das heißt aber noch lange nicht, dass ihre Fratelli d'Italia Mitglied der Europäischen Volkspartei werden. Definitiv nicht.

Aber macht man Parteien am äußersten rechten Rand nicht hoffähig, wenn man mit ihnen im Gespräch bleibt?
Es gibt auch auf der rechten Seite Schattierungen – und Melonis Bekenntnis ist ein ganz anderes als bei unserer AfD, die sich Russland regelrecht anbiedert. Deshalb kann man mit Meloni Gespräche führen – bei aller gebotener Vorsicht.
"Die Justiz zu schützen, ist wichtig"
Also zurück nach Deutschland: Um das Verfassungsgericht vor Demokratiefeinden zu schützen, wird auf Bundesebene darüber diskutiert, die Regelungen zur Organisation des Gerichts und zur Richterwahl ins Grundgesetz aufzunehmen, so dass sie sich nicht mehr mit einfacher, sondern nur noch mit Zweidrittelmehrheit ändern lassen. Warum hat sich die Union so lange dagegen gewehrt?
Ich weiß nur, dass wir in Bayern die Diskussion über die Zweidrittelmehrheit auch hatten. Die wollte die Opposition gerne. Aber wenn ich jetzt zum Beispiel nach Thüringen schaue, wo die Gefahr besteht, dass die AfD künftig ein Drittel der Abgeordneten stellt, stellt sich die Frage, wie man mit einer Zweidrittelmehrheit ein Gericht besetzen kann. Dass man die Justiz jedoch schützen muss, ist wichtig.
Im Freistaat wurden im Januar zwei ehrenamtliche Juristen mit AfD-Parteibuch mit den Stimmen von CSU und Freien Wählern an den Verfassungsgerichtshof entsandt – auch, weil das Gericht sonst blockiert gewesen wäre. Nach massiver Kritik soll nun das Gesetz geändert werden. Warum erst jetzt?
Hier sieht man, wie komplex das Thema ist. Die bayerische SPD hat es schließlich dankend zur Kenntnis genommen, dass wir es mitbewerkstelligt haben, dass der Verfassungsgerichtshof arbeitsfähig bleibt. Sie hat sich ein bisschen einen schlanken Fuß gemacht – wie damals der Freistaat Bayern beim Grundgesetz (lacht). Aber das zeigt, dass man die Mechanismen und ihre Konsequenzen von beiden Seiten genau betrachten muss. Denn in der Tat ist es so, dass die Gerichtsbarkeit in anderen Ländern als erstes Angriffsziel betrachtet wird. Das darf bei uns definitiv nicht geschehen. Und dazu, warum man diese Lösung erst jetzt gesucht und gefunden hat: Ich glaube, man hat vorher einfach nicht auf dem Radar gehabt, dass es zwei ehrenamtliche AfD-Richter am Verfassungsgerichtshof gibt. Das ist erst jetzt, durch die weitere Radikalisierung dieser Partei, so richtig aufgefallen – vorher niemandem, auch nicht der Opposition. Aber es muss ja gewährleistet sein, dass der Verfassungsgerichtshof arbeitsfähig ist, und dazu müssen die ehrenamtlichen Richter bestellt sein.
Zurück zum Grundgesetz: Haben Sie – neben Artikel 1 – einen weiteren Lieblingsartikel?
Ja, toll finde ich auch Artikel 9, in dem es unter anderem heißt: "Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden". Das ist eine der Grundlagen dafür, dass Bayern so unglaublich stark geworden ist. Wir haben ein unfassbar großes Engagement in der Bevölkerung! Diese Vielfalt macht das Leben lebenswert.
Und was wünschen Sie dem Grundgesetz zu seinem 75. Geburtstag am 23. Mai?
Dass es sich – mindestens – die nächsten 75 Jahre so wehrhaft zeigt wie die letzten, und dass es weiterhin eine so gute Grundlage zur Entwicklung unseres Landes darstellt.