Kommentar

Wahl in der Türkei: Licht und Schatten

Bei der Auszählung der Stimmen zur Präsidentenwahl in der Türkei zeichnet sich ein knappes Ergebnis ab. Sowohl der Oppositionsführer Kilicdaroglu, als auch Amtsinhaber Erdogan sehen sich vorne. Ein Kommentar von AZ-Reporter Hüseyin Ince.
von  Hüseyin Ince

Istanbul - Am frühen Sonntagabend rangelten alle noch um die Zahlen. Die Opposition von der Partei CHP, rund um Erdogan-Herausforderer Kemal Kilicdaroglu, sah sich vorn. So twitterte er es auch: "Öndeyiz" hieß das auf Türkisch, wir sind vorne. Die staatsnahe staatliche Nachrichtenagentur Anadolu zählte, dass Erdogan und seine Partei führen.

Ein knappes Ergebnis zeichnet sich ab

Doch Anadolu wertete offenbar erst die AKP-Hochburgen aus. Das mal vorweg. Es zeichnete sich ein knappes Ergebnis ab, was wiederum die Zerrissenheit des Landes zeigt. Auf der einen Seite die Metropolen Istanbul, Ankara und Izmir, wo anscheinend Kilicdaroglu und sein Sechserbündnis rund um seine CHP deutlich größere Sympathien haben, sowie auch in den Kurdengebieten. Auf der anderen Seite das traditionelle sowie konservative Landesinnere: Erdogan-Hochburgen durch und durch.

In den vergangenen Tagen hieß es immer, es sei eine Richtungswahl. Das ist sie auch. Beobachter wie der Journalisten-Methusalem Ugur Dündar ahnen voraus, dass Erdogan das Ein-Mann-Regime weiter stärken wird, die Gesellschaft stärker re-islamisieren möchte, wenn er die Wahl gewinnt - vor allem die Präsidentschaftswahl.

Zwei Methoden: Wie Erdogan freiheitliche Bürger bekehren will

Tatsächlich ist das zu befürchten, dass er die Türkei in ein noch konservativeres Land umwandelt, sowohl das politische System, als auch die Gesellschaft. Ein Beispiel: Alkohol. Schon immer ein Dorn im Auge der Konservativen. Bier und Raki werden inzwischen so hoch besteuert, dass sich das kaum noch jemand leisten kann. Dafür - so munkelt man - lässt Erdogan in der zentralistisch regierten Türkei die Muezzinrufe maximal laut drehen, damit es auch wirklich jeder hört.

Das sind nur zwei von vielen Methoden, wie Erdogan freiheitliche Bürger bekehren will. An den liberalen Küsten des Landes hat er das bis heute nicht geschafft. Hier herrschen die weltoffene Kräfte vor, trotz aller Anstrengungen des Erdogan-Regimes. Für diesen Teil der Bevölkerung ist das ein großer Schatten, der weiter über das Land ziehen könnte, wenn Erdogan gewinnt.

Ein langer Weg zu einer offenen, freiheitlichen Gesellschaft

Auf der anderen Seite der Lichtblick: der Traum einer weltoffenen Gesellschaft, wo jeder und jede sein Leben leben kann, wie er oder sie es will, ob religiös oder nicht. Dieses Leben verspricht Kemal Kilicdaroglu, gemeinsam mit seinem Oppositionsbündnis. Aber: Auch wenn er die Wahl gewinnen sollte - Parlament sowie Präsidentenamt -, ist es ein langer Weg zu dieser offenen Gesellschaft. Zunächst müssen sich sechs Parteien über die Verteilung der Regierungsämter einig werden.

Kann Kilicdaroglu sein großes Versprechen einlösen?

Das könnte Wochen und Monate dauern. Und dann bleibt die Frage, ob Kilicdaroglu sein großes politisches Versprechen einlösen kann: nämlich, wieder mehr Demokratie zu wagen und das zentralistische Ein-Mann-Regime von Erdogan wieder zu einem ausgeglichenen, parlamentarischen System umzuwandeln und - Achtung - somit möglicherweise sein eigenes Amt zu entmachten, das er bei einem Wahlsieg Erdogan entrissen hätte. Auch das könnte Jahre dauern, vorausgesetzt das Bündnis aus sechs Parteien hält.

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