Vertreter aus Wirtschaft und Gesellschaft warnen vor AfD-Programm: "Massenarbeitslosigkeit" und "Wohlstandsverluste"

Die AZ hat mit Politologen, Vertretern aus Wirtschaft und Kirche über das Programm der Rechtspopulisten gesprochen. Sie befürchten einen "massiven Wohlstandsverlust" – und ein Ende der gesellschaftlichen Solidarität.
von  Heidi Geyer, Maximilian Neumair
Alice Weidel, AfD-Parteichefin, spricht auf dem Neujahrsempfang der AfD Duisburg.
Alice Weidel, AfD-Parteichefin, spricht auf dem Neujahrsempfang der AfD Duisburg. © picture alliance/dpa

Es ist noch keine zwei Wochen her, da stellte AfD-Chefin Alice Weidel den Deutschen eine Abstimmung über den Verbleib in der EU in Aussicht. Es ist noch keine Woche her, da stellte Weidel jedoch infrage, dass ein Austritt aus dem Euro überhaupt gelingen kann. Es sind Aussagen wie diese, die Fragen aufwerfen. Was will diese Partei eigentlich wirklich?

Auf den ersten Blick klingt vieles gut, was die AfD fordert: "Bürokratie abbauen, staatliche Subventionen reduzieren und Mittelstand stärken", heißt es im Grundsatzprogramm. "Tiere sind fühlende Wesen", liest man an anderer Stelle. Wer würde da schon widersprechen? Es soll weiterhin einen Mindestlohn geben, Kinder und Erziehungsleistung sollen bei sozialer Sicherung sowie Rente berücksichtigt werden. Hat diese Partei, gegen die aktuell zahlreiche Menschen auf die Straße gehen und demonstrieren, also wirklich so viel Böses im Sinne? Ja, hat sie, findet Florian Wenzel. Der Politikwissenschaftler beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Demokratiebildung als Trainer und Prozessbegleiter in der politischen Erwachsenenbildung.

Wie die AfD arbeitet: "Das ist eine Inszenierung von 'wir' gegen 'die'"

Es ist besonders ein Aspekt, den Wenzel kritisch findet: "Die Demokratie ist der Versuch, mit der Unsicherheit, die unser menschliches Leben kennzeichnet, umzugehen. Sich dem immer wieder auszusetzen und eben nicht zu wissen, was morgen ist." Dass das für viele Menschen nicht leicht ist in den derzeitigen internationalen Krisensituationen, versteht Wenzel. "Die AfD bietet sich dabei an und sagt im Grunde: Stopp, wir schaffen Sicherheit, wir regeln das." Aber eben durch Abschottung. Dadurch wird die Unsicherheit ausgeblendet - hinterfragt werden aber auch die Grundsätze von Demokratie, nämlich Pluralität, Opposition und das Revidieren von Entscheidungen.

"Das ist eine Inszenierung von 'wir' gegen 'die', weil Demokratie ja den Anspruch hat, durch die Beteiligung aller etwas zu erreichen." Zurück in eine heile Welt führe das Programm der AfD – aber eben nur vermeintlich, weil die Realitäten wie Klimawandel ja dennoch bestehen, sagt Wenzel. Den Wunsch nach Einfachheit versteht er, auch die große Sehnsucht danach. Er sieht aber auch hohe und unrealistische Erwartungen an die Politik, die sich derzeit sehr stark kulminieren: "Seit Corona scheint das ein Missverständnis zu sein, dass für individuelle Anliegen die Politik verantwortlich gemacht wird."

Doch die AfD erklärt nicht genau, wo sie das Geld für ihre Politik hernehmen will. Schließlich will sie an der Schuldenbremse festhalten. Man spart an der Migration und den berühmten peruanischen Radlwegen – kann das aufgehen? Gesellschaftlich nicht, findet Wenzel. "Das ist eigentlich ein Zeichen für eine 'entsolidarisierte' Gesellschaft", sagt der Demokratie-Experte. Dabei werden Werte gegeneinander ausgespielt nach einer Logik, bei der der Asylbewerber dem Landwirt mit 20 Hektar Besitz etwas wegnimmt: "Da tut man so, als wäre das auf dem gleichen Level – was de facto nicht so ist."

Der Münchner Erzbischof Kardinal Reinhard Marx hat sich gegen Anhänger der AfD in Kirchenämtern ausgesprochen. Die AfD und deren Positionen seien unvereinbar mit den Werten der Katholischen Kirche, sagte Marx auf der Herbstvollversammlung der Freisinger Bischofskonferenz. Sein Kollege von der Evangelischen Kirche ist da noch deutlicher. "Ich befürchte, in einem AfD-regierten Bayern gäbe es einen sehr aggressiven Umgang mit Andersdenkenden, es gäbe viel Hass und Hetze", sagt Landesbischof Christian Kopp der AZ. "Das wäre das Gegenteil von Nächstenliebe." Denn bei der AfD gelte das Leistungsprinzip in allen sozialen Feldern. "Die schwächeren oder gesundheitlich eingeschränkten Menschen kämen leicht aus dem Blick", sagt der Landesbischof. Eben jene, für die sich Christinnen und Christen engagieren.

Wirtschaftspolitik-Professor Andreas Haufler: "Ein Programm des massiven wirtschaftlichen Abstiegs"

Als düster schätzt auch Wenzel die Perspektive für jene Menschen ein, die sich schon jetzt vom Staat zu wenig unterstützt fühlen. Wie es einem chronisch-kranken 57-Jährigen unter einer AfD-Regierung ginge? "Eher schlechter. Für den wird es schon eng", sagt der Politologe. Denn die AfD setze viel stärker auf Eigenverantwortung. Wenzel spricht auch von Publikationen, in denen es um Biopolitik gehe, "bei denen es mich gruselt". Das Konzept: Die, die für den Volkskörper nützlich sind, dürfen bleiben, die anderen werden ausgesondert. Zumal es an Pflegekräften noch mehr fehlen werde.

Das sieht nicht nur Wenzel so, sondern auch der Wirtschaftspolitik-Professor Andreas Haufler, der an der LMU forscht und lehrt. Kann das, was gesellschaftlich schon schwierig ist, dann wenigstens ökonomisch aufgehen? Klingt nicht so. "Es ist ein Programm des massiven wirtschaftlichen Abstiegs", sagt Haufler. Zentral sei dabei der Faktor Arbeit. "Alle Ökonomen werden Ihnen sagen, dass wir dringend Zuwanderung brauchen!" Das wolle die AfD mindestens vermeiden. "Es geht dabei nicht nur um Fachkräfte, sondern auch um Arbeitskräfte für die weniger qualifizierten Berufe!", warnt Haufler. Es gebe aber noch einen zweiten Aspekt, nämlich, dass die AfD gesellschaftspolitisch das Arbeitsengagement von Frauen zurückfahren möchte. "Stattdessen sollen Frauen auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter reduziert werden", so Haufler. Reichen werde das aber nicht, so dass deutsche Kinder die Zuwanderung ablösen könnten. "Selbst wenn die Geburtenquote steigt, können wir nicht zwei Jahrzehnte warten. Wir brauchen jetzt Fach- und Arbeitskräfte!"

"Das wird massive Wohlstandsverluste zur Folge haben", sagt ein Ökonom zum AfD-Programm

Der Professor sieht auch eine Art Etikettenschwindel: "Das Programm der AfD versucht, sich einen marktwirtschaftlichen Anstrich zu geben. Im Kern ist es das aber nicht." Wie wankelmütig die AfD programmatisch ist, konnte man jüngst bei der Debatte um den Agrardiesel erkennen. Deutlich weniger Subventionen wollte die AfD für die Landwirtschaft in ihrem Grundsatzprogramm, stattdessen mehr Wettbewerb. Nun fordert sie, dass die Agrardieselsubventionen sogar verdoppelt werden sollen. Einerseits gibt sich die AfD also sehr behütend, dann aber wieder sehr neoliberal. Da kann man schon etwas verwirrt sein.

"Meine Lesart ist, dass einerseits von freiem Handel die Rede ist. Aber dann kommen viele Widersprüche." Etwa regionale landwirtschaftliche Produkte statt billiger Importe. "Dann gibt es einen Absatz, dass wir die deutsche Industrie mit geringeren Steuern fördern sollten", sagt Haufler. Und die Aussage, dass wir den Strom nur für uns produzieren sollten, statt ihn zu handeln. "Dass wir Handel brauchen und Handel Wohlstand fördert, ist unter Wissenschaftlern aber unbestritten. Wenn wir das aufgeben und in Richtung einer nationalen Ökonomie gehen, wird das massive Wohlstandsverluste zur Folge haben", mahnt der Experte.

"Die AfD macht keine Politik für die Arbeitnehmer. Sie ist nur für Superreiche da"

Um die Frage der EU-Mitgliedschaft und den Euro eiert die AfD schon seit langem herum. "Die AfD fordert im Europawahlprogramm einen Ausstieg aus dem Euro. Das ist eine deutliche Verschärfung zu ihrem Grundsatzprogramm, in dem es noch um eine Abstimmung zum Euro ging." Letztlich will die AfD die EU laut Haufler nicht reformieren, sondern abschaffen und möglicherweise etwas anderes gründen, wenn die anderen Staaten mitmachen. Ob die das auch wollen, sei fraglich. Und den eingangs erwähnten Ausstieg aus der EU, über den Weidel abstimmen lassen will? "Wer für den Dexit ist, muss nur die Briten fragen. Seit dem Brexit ist Großbritannien ein Land, das große wirtschaftliche Probleme hat", sagt Haufler.

Bernhard Stiedl, Chef des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) in Bayern, prognostiziert "Massenarbeitslosigkeit" im Fall eines EU-Austritts. "Allein rund 60 Prozent unserer Exporte gehen nach Europa, die würden dann wegfallen – genauso wie mehrere Millionen Arbeitsplätze in Deutschland und Bayern." Und auch der Wirtschaftsstandort Deutschland würde unattraktiver werden: "Wir werden feststellen, dass wir weniger Investitionen vom Ausland erhalten und Firmen abwandern, weil die fehlenden Fachkräfte nicht einwandern." Aus Gewerkschaftsperspektive besonders fatal: "Die AfD macht keine Politik für die Arbeitnehmer. Ganz im Gegenteil: Sie ist nur für Superreiche da."

Doch auch Bertram Brossardt, Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) warnt vor der AfD: "An eine Regierungsbeteiligung der AfD dürfen wir gar nicht denken. Wir müssen alles dafür tun, das zu verhindern." Er findet, die Politik der AfD schade massiv dem Wirtschaftsstandort und argumentiert ähnlich wie Stiedl mit der globalen Einbindung. Auch der Deutsche-Bank-Chef Christian Sewing hatte jüngst vor der AfD und Konsequenzen aus deren Programm gewarnt.

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