Ulrich Wickert: "Le Pen hat gar keine Chance zu gewinnen"
Ulrich Wickert ist einer der bekanntesten Köpfe des deutschen Fernsehens. Der 74-Jährige leitete die ARD-Studios in New York und Paris und war von 1991 bis 2006 Moderator der Tagesthemen.
AZ: Herr Wickert, warum kommt die rechtsextreme Kandidatin Marine Le Pen bei vielen Franzosen so gut an?
ULRICH WICKERT: Da gibt es mehrere Gründe. Einer der wichtigsten ist, dass sie den Eindruck macht, sie gehöre nicht zum politischen Establishment. Aber natürlich gehört sie dazu, sie hat schließlich den Front National von ihrem Vater geerbt. Zum anderen versammelt sie alle Arten von Unzufriedenen hinter sich.
Wer sind denn die Unzufriedenen in Frankreich?
Die kommen zum großen Teil auch aus der ehemaligen kommunistischen Partei, die Anfang der 1980er Jahre noch 20 Prozent hatte. So wählen 40 Prozent der Arbeiter heute Front National. Le Pens Wähler kommen natürlich auch aus dem absolut rechten Bereich, den es überall gibt. Und dann kommen noch diejenigen dazu, die im ersten Wahlgang einfach mal zeigen wollen, dass sie unzufrieden sind.
Die wollen also einfach nur eine Proteststimme abgeben?
Ja.
Warum?
Weil insbesondere die französische Landbevölkerung den Eindruck hat, dass es ihr immer schlechter geht. Es gibt immer mehr kleine Orte, die keinen Metzger, keinen Bäcker und kein Bistro mehr haben. Da müssen die Leute mehrere Kilometer in den nächsten Supermarkt fahren und fühlen sich alleine gelassen, vergessen.
Sie sagen sich: François Hollande der Sozialist, Nicolas Sarkozy und Jacques Chirac, die Konservativen, haben sich nicht um uns gekümmert, deshalb wählen wir jetzt mal Front National.
Dennoch liegt in den Umfragen der unabhängige Kandidat Emmanuel Macron vorne. Was macht ihn so stark?
Viele Franzosen haben das Rechts-Links-Denken der Vergangenheit satt. Deshalb gibt es jetzt auch eine starke politische Mitte, die sich in Macron äußert. Diese Wähler wollen, dass jetzt Probleme gelöst werden, wollen das korrupte französische Polit-System nicht mehr haben. Da kommt ein neues Gesicht wie Macron, der zwar auch aus den Eliteschulen hervorgekommen ist, aber neue Thesen und frischen Wind mitbringt, gut an. Viele wünschen sich einen Umschwung, deshalb bekommt er Zuspruch aus allen Lagern.
Kritik an der EU, am Euro und auch an Deutschland war ein bestimmendes Thema im Wahlkampf. Warum stehen viele Franzosen Europa skeptisch gegenüber?
Zum einen befindet sich Frankreich seit langer Zeit in einer Identitätskrise. Diese wurde durch die Deutsche Einheit bestärkt, weil Deutschland politisch plötzlich die Nummer eins in Europa war und nicht mehr Frankreich.
Dann kommt hinzu, dass die Franzosen das Gefühl haben, dass ihnen die europäische Finanzpolitik, der rigide Sparkurs, von den Deutschen aufgezwungen wurde – was natürlich nicht der Fall ist.
Welche Folgen hätte ein Wahlsieg eines EU-Kritikers für Deutschland und Europa?
Die beiden harten EU-Kritiker Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon, die auch aus dem Euro rauswollen, werden meines Erachtens nach nicht gewinnen. Insofern können wir ein bisschen durchatmen.
Aber sollte Marine Le Pen doch gewinnen...
Sie hatte für den Fall ihres Sieges ein Referendum über einen Austritt aus dem Euro angekündigt. Und ich glaube nicht, dass sie dafür eine Mehrheit bekommen wird. Zumal es im Juli Parlamentswahlen gibt, bei denen Le Pen nie die Mehrheit bekommen wird. Sie hätte es also sehr schwer, zu regieren.
Eine Stichwahl gilt als sicher. Wer zieht Ihrer Meinung nach in diese ein?
Macron, Le Pen oder Fillon haben die Chance. Und ich denke, dass sich Macron sowohl gegen Le Pen als auch gegen Fillon durchsetzen wird. Le Pen hat meiner Meinung nach gar keine Chance zu gewinnen.
Würden Sie Macron wählen?
Ja, ich habe ihn vor zwei Jahren persönlich kennengelernt. Er wäre ein Segen für Frankreich und Europa, weil er eine Europa-Politik wie Deutschland betreiben und sein Land renovieren würde.
Erst am Donnerstagabend ereignete sich in Paris erneut ein Anschlag. Wird der Terror auch das Wahlverhalten der Bürger beeinflussen?
Die Anschläge an sich weniger. Aber die Frage der Immigration, die damit zusammenhängt, spielt eine große Rolle. Marine Le Pen hat jetzt im Wahlkampfendspurt noch mal angezogen, indem sie hier angesetzt und populistisch gesagt hat: Bei mir wäre das nicht passiert. Bei mir würde jeder rausgeschmissen werden, der sich nicht fügt.
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