Ulrich Tilgner: "Der Krieg des Westens gegen den Terror wird scheitern"

München - Der Nahost-Experte Ulrich Tilgner über Verhandlungen mit den Taliban und die Schuld Europas am Elend der Flüchtlinge auf Lesbos.

AZ: Herr Tilgner, was geht in Ihnen vor, wenn Sie die Bilder aus Moria sehen und die Debatte darüber verfolgen?
ULRICH TILGNER: Ich finde das alles absurd, weil den Politikern nicht klar zu sein scheint, was diese Menschen durchgemacht haben. Es geht doch niemand freiwillig von Zuhause weg. Hinzukommt, dass sie offenbar nicht sehen, dass wir Deutschen einen Anteil an den Zuständen in Moria haben.
Inwiefern?
Der Kolonialismus und die neue Abhängigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg haben dazu geführt, dass sich die Staaten, aus denen viele Geflüchtete stammen, nicht richtig entwickelt haben. Dafür gibt es natürlich Gründe vor Ort - aber die Europäer sollten immer darauf achten, welche Verantwortung auch sie selbst dafür tragen. Es werden dort teils üble Schurken an der Macht gehalten. Es gibt Scheinwahlen oder ganz offen gefälschte. Aber: Wenn in Belarus Wahlen gefälscht werden, empört sich die ganze Welt - geschieht dasselbe in Afrika, ist es kaum eine Randnotiz wert.
In Katar verhandeln Vertreter der afghanischen Regierung derzeit mit den Taliban über Frieden. Glauben Sie an einen Erfolg?
Nein. Die Taliban sind unverrückbar, was ihren Standpunkt angeht. Sie haben sich nur wenig verändert und wollen eine Islamische Republik nach ihren Vorstellungen. Das haben sie klar gemacht.
Waren die Bemühungen in Afghanistan umsonst?
Waren der Afghanistan-Einsatz und sämtliche Aufbau-Bemühungen der USA und ihrer Verbündeten dann umsonst?
Wenn der Westen die Regierung und die Zivilgesellschaft nicht weiter unterstützt, droht eine Wiederholung der Katastrophen in Afghanistan. Der fürchterliche Bürgerkrieg in den 1980er Jahren mit den Fraktionskämpfen der Mudschaheddin war das Ergebnis des Rückzugs der sowjetischen Armee - und des Eingreifens der USA. Heute hat Afghanistan ein Heer, das etwa sechs Milliarden Dollar pro Jahr kostet. Das kann das Land nicht aus eigener Kraft hervorbringen. Der Westen entwickelt Militärsysteme, an deren Unterhaltung solche Länder kaputt gehen. Wenn sich diese Militärsysteme dann auflösen, laufen die Leute zur anderen Seite über - das ist ganz normal. Die Taliban zahlen bis heute mehr an ihre Kämpfer als der afghanische Staat an Polizisten. Das ist doch kein Zustand. Mit Aschraf Ghani hat Afghanistan zur Zeit einen Staatspräsidenten, der vernünftige Politik macht. Bei seinem Vorgänger Hamid Karsai hingegen hat man die Augen zugedrückt, wenn Milliarden an Hilfsgeldern in den Taschen der Superreichen verschwunden sind.
Was die Spaltung der Gesellschaft verschärft hat.
Ja. Die Landbevölkerung hat nichts davon gehabt. Sie ist zurückgeblieben, hat noch die alten afghanischen Werte der Unabhängigkeit - und unterstützt die Taliban. In den Städten hingegen gibt es Künstler und Frauen-Bewegungen. Wenn diese Gruppen jetzt keine Unterstützung mehr erhalten, werden sich die Taliban bei den Verhandlungen durchsetzen. Es war richtig, dass sich die Amerikaner unter Trump militärisch aus dem Land zurückgezogen haben, aber es droht eine völlige Abwendung von Afghanistan - und die darf es auf keinen Fall geben.
"Man dürfte in die gesamte Region keine Waffen mehr liefern"
US-Präsident Donald Trump hat den Taliban im Vorfeld die Zusage abgerungen, dass von Afghanistan keine Terrorbedrohung mehr ausgeht. Ist das realistisch?
Teilrealistisch - wenn man die Taliban selbst nicht als Terroristen bezeichnet, obwohl sie Anschläge verüben, bei denen Frauen und Kinder getötet werden. Dabei werden sie von Pakistan unterstützt, und wurden von dessen militärischem Geheimdienst aufgebaut, der viel Geld von den USA erhielt. Das ist ein Kreislauf, den man immer wieder findet. Man kann nur hoffen, dass die Taliban jetzt in der Lage sind, den Islamischen Staat davon abzuhalten, in Afghanistan Lager zu errichten, in denen dann wieder Terroristen ausgebildet werden, die Anschläge im Westen unternehmen. Denn mit Krieg und Besetzung wird es nicht gelingen, diesen Terror-Kreislauf zu durchbrechen. Das führt nur dazu, dass ausländische Soldaten als Eindringlinge und Besatzer gesehen werden, dass man gegen sie kämpft - und genau das wollen die Terroristen. Der Westen ist mit seinem Krieg gegen den Terror auf einem absoluten Holzweg und wird scheitern. Das konnte man in Afghanistan sehen - und jetzt auch in Afrika.
Wo genau?
Eigentlich im gesamten Sahel-Gebiet operieren deutsche Truppen im Fahrwasser der Franzosen. Das ist die Europäisierung des Krieges in Afrika. Im Kleingedruckten steht dann bei Parlamentsanträgen der Bundesregierung, dass man die Grenzen dort besser kontrollieren will. In der Folge werden die Flüchtlinge bereits im Süden der Sahara davon abgehalten, nach Europa zu wandern.
Welche Konsequenz hat der Rückzug der USA aus dem Nahen Osten?
Die Russen melden sich natürlich zurück, weil sie ihre eigenen Positionen stärken wollen. Die Amerikaner sind im südchinesischen Meer hinreichend beschäftigt - und diese Konfrontation mit China wird andauern. Ich halte übrigens überhaupt nichts davon, wenn man in Donald Trump den großen Teufel sieht. Trump setzt fort, was es schon vorher gegeben hat. Er ist höchstens eine Art Extremismus amerikanischer Großmacht-Politik. Dabei ist die Rückbesinnung auf den Nationalismus etwas, was das Scheitern der westlichen Politik insgesamt ausdrückt: Die Europäer werden sich ebenfalls auf sich zurückziehen. Sie fangen doch auch schon damit an, den Bau von Mauern und Grenzkontrollen zu finanzieren.
Deutschland exportiert immer mehr Waffen
Wird sich daran etwas ändern, sollte Trump die Wahl verlieren?
So richtig hoffnungsvoll bin ich nicht.
Warum nicht?
Weil die US-Politik sich vor allem auf Grundlage der amerikanischen Wirtschaftsinteressen ändert. Joe Biden ist zwar anders als Trump nicht so holzhacker-mäßig unterwegs, aber im Prinzip ist er ähnlich. Es gibt jetzt schon sehr schöne Beschreibungen, dass sein Wirtschaftsprogramm und seine Wahlkampftaktik der Strategie von Trump vor vier Jahren mehr ähnelt als der eigenen vor vier Jahren. Das sagt doch eigentlich alles.
Was müsste die EU im Nahen Osten tun, um zu seiner Befriedung beizutragen?
Keine Waffen mehr dorthin liefern und dafür sorgen, dass die Reichtümer in der Region gleichmäßig verteilt werden. Ein Beispiel: Saudi-Arabien hat die größten Öleinnahmen und lässt nur Günstlinge davon profitieren, etwa Ägyptens Präsidenten Sisi. Das ist ein General, der Menschen, die bei den letzten Wahlen nicht abgestimmt haben, bestrafen lassen will. Das ist für Ägypten völlig neu. Sisi verbreitet Angst und Schrecken, in den Gefängnissen wird gefoltert, Journalisten sitzen in Haft - und die Amerikaner zahlen weiter Militärhilfe an ihn.
Während die Deutschen Sisi Waffen für Hunderte Millionen Euro verkaufen.
Die deutschen Waffenexporte steigen und steigen. Dabei müssten die Europäer eigentlich mit dieser US-basierten Tradition brechen. Wenn man wegen der Ermordung eines Dissidenten an Saudi-Arabien keine Waffen mehr liefert, dann ist das doch nur ein Vorwand. Man dürfte an Saudi-Arabien grundsätzlich keine Waffen liefern - genauso wenig wie in die gesamte Region. Aber ich bezweifle, dass die EU diesen Traditionsbruch schafft.

Ulrich Tilgners neues Buch "Krieg im Orient" (22 Euro) erscheint am Dienstag bei rowohlt Berlin.