Ukrainer in München: "Helden sterben nie"
Münchens Ukrainer beten für ihr Land – und für die Opfer der Revolution
München - Die kleine Kirche in der Schönstraße bietet kaum genug Platz für all die Menschen, die an diesem Sonntag in ihr Trost suchen. Die Gläubigen stehen bis in den Vorraum. Schweigend. Viele weinen. Es sind Ukrainer aus München und dem Umland, die hier für ihre Freunde und Verwandten beten, für ihr Land – und für die Toten vom Maidan.
Sie haben Geld gesammelt, um die Demonstranten in Kiew zu unterstützen, haben Medikamente und Lebensmittel dorthin geschickt, sogar kugelsichere Westen. Trotzdem fühlen sich viele hilflos. „Man sitzt hier in München, hat alles – und kann doch so wenig tun“, sagt Alexander. Der Software-Entwickler ist vor wenigen Monaten Vater geworden. „Sonst“, sagt er, „wäre ich vielleicht nach Kiew gefahren. Aber mit Kind geht das nicht“.
Der 28-Jährige ist als Bub mit seiner Mutter nach Deutschland gekommen, er hat Freunde und Familie in Kiew. Alle zwei Tage ruft er dort an. Niemand wird vermisst, niemand ist verletzt – zum Glück. Auch auf der Liste mit den Namen der Toten, die im Internet kursiert, steht niemand, den er kennt. „Aber das waren bestimmt alles gute Menschen“, sagt er leise. Der junge Vater hofft, dass sie nicht umsonst gestorben sind, „dass es den Menschen in der Ukraine in Zukunft besser geht, dass die Korruption aufhört – aber auch, dass die Ukraine nicht zerbricht“.
Alexander ist einer von knapp 6000 Ukrainern, die in München gemeldet sind. Die erste Generation kam zwischen den Weltkriegen, die jüngste nach dem Scheitern der orangenen Revolution. Seit 1945 haben sie in Bayern eine eigene Hochschule: die Ukrainische Freie Universität in der Barellistraße. 1975 wurde die ukrainische griechisch-katholische Kirche in der Schönstraße gebaut. Seit 1989 ist Kiew eine der Partnerstädte Münchens.
Eine Kerze für jedes Todesopfer
Jaroslav Holovcuk (40) stammt aus der Nähe von Lwiw und lebt seit 1981 in Deutschland. „Ich war erleichtert, als ich gehört habe, dass das Parlament Janukowitsch abgesetzt hat“, sagt der Spediteur. „Der Mann ist ein Mafioso.“ Seine Schwiegereltern in der Ukraine, erzählt er, hätten oft monatelang keine Rente bekommen. „Und Janukowitsch hat sich einen Palast nach dem anderen gebaut – mit goldenen Waschbecken und Toiletten.“
Der Sturz des Präsidenten sei ein Lichtblick, sagt Pfarrer Ivan Machuzhak. „Jetzt müssen wir beten, dass die Dinge sich in die richtige Richtung entwickeln – in Richtung Rechtsstaat und in Richtung Europa. Denn dafür sind die Menschen auf dem Maidan gestorben.“ Die Ministranten verteilen Fotos der Getöteten und 82 Kerzen: eine für jedes Opfer. „Wahrscheinlich sind noch mehr Menschen umgekommen“, sagt der Pfarrer traurig. „Mindestens 30 werden noch vermisst.“ Auf den Bildern der bestätigten Toten sind Männer jeden Alters zu sehen: ein Schüler, der drei Katzenbabys im Arm hält; Familienväter, die stolz ihre Kinder präsentieren; ein exzentrischer Mittdreißiger mit schwarzumrandeten Augen; ein älterer Herr mit wallendem weißen Haar.
Nach dem Gottesdienst versammelt sich die Gemeinde auf dem Kirchenvorplatz, um ein Requiem für sie zu singen. Einigen Trauernden versagt die Stimme. Eine Rentnerin, die sich ein Schleifchen in den ukrainischen Nationalfarben an die Jacke geheftet hat, ist so bewegt, dass sie die Gedenkfeier vorzeitig verlässt. Sie hört nur noch aus der Ferne, wie ihre Landsleute die ukrainische Nationalhymne anstimmen, bevor sie Bilder und Kerzen vor dem großen Holzkreuz im Kirchenhof ablegen. „Vom Maidan in den Himmel“, skandieren sie dabei und: „Helden sterben nie.“
Die ukrainische griechisch-katholische Gemeinde trifft sich derzeit jeden Morgen um 8 Uhr zum Gottesdienst in ihrer Kirche, Schönstr. 55.
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