Ukraine-Präsident Wolodymyr Selenskyj nach zwei Jahren Krieg: "Der Horror hat sich in sein Gesicht geschrieben"
AZ: Herr Shuster, Sie haben den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj mehrmals getroffen – vor und während des russischen Angriffskrieges. Was für ein Mensch ist er?
SIMON SHUSTER: Das kommt darauf an, über welchen Selenskyj wir sprechen. Er hat ziemlich dramatische Veränderungen durchgemacht: vom Comedian zum Politiker, zum Präsidenten und zum Führer in Kriegszeiten. Trotzdem hat er konsistente Eigenschaften: Er ist sehr hartnäckig, ein schneller, intuitiver Entscheider. Er ist ziemlich charismatisch und scheint sehr geerdet in dem Sinne, dass er nicht die Arroganz oder den Pomp ausstrahlt, wie es andere politische Führer tun. Wenn man sich mit ihm unterhält, fühlt es sich an, als würde man mit einem Gleichgestellten sprechen: Er stellt dir Fragen und hört sehr genau zu. Aber eigentlich ist es einfacher zu beschreiben, wie er sich verändert hat.
Dann tun Sie das, bitte.
Am dramatischsten war der Wandel zu Beginn der Invasion 2022. Er wurde viel härter, hatte weniger Zeit für Small Talk und Witze. Heute scheint er Kummer, Traurigkeit und Wut in sich zu tragen. Das ergibt ja auch Sinn, wenn man sich vorstellt, mit was er jeden Tag konfrontiert ist: Er sieht die Opfer des Krieges. Er spricht mit Soldaten, die Arme und Beine verloren haben. Er redet mit den Müttern und Witwen von Soldaten, die gestorben sind. Und das ist nur ein winziger Teil von dem, mit was er sich befassen muss. Man kann sehen, wie sich dieser Horror des Krieges in sein Gesicht geschrieben hat.
Ukrainischer Präsident Wolodymyr Selenskyj: "Unfassbar hart im Nehmen"
In seinen Reden präsentiert er sich als Kämpfer. Ist er das wirklich – oder ist das sein schauspielerisches Talent?
Er ist ein Kämpfer, unfassbar hart im Nehmen! Es ist für mich immer wieder verblüffend, wie zuversichtlich und stark er sich fühlt, selbst wenn er von Leuten umgeben ist, die mächtiger sind und versuchen, ihn herumzuschubsen. Selbst dann, wenn unklar ist, ob es ihm die Ausgangslage erlaubt, zuversichtlich zu sein.
Gab es trotzdem einen Moment, in dem Sie ihn voller Verzweiflung erlebt haben?
Ich würde nicht verzweifelt sagen – aber verloren oder deprimiert: Wir führten im November 2019 ein Interview in seinem Büro. Damals war die internationale Situation sehr schwierig. Er steckte mitten in diesem Skandal, der zu Donald Trumps erstem Impeachment-Verfahren führte (Trump hatte Selenskyj 2019 in einem Telefonat dazu gedrängt, gegen seinen politischen Rivalen Joe Biden und dessen Sohn Hunter wegen Korruptionsvorwürfen ermitteln zu lassen, d. Red.), die Anhörungen dazu fanden gerade statt. Parallel dazu bereitete sich Selenskyj auf seine ersten Verhandlungen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin vor, um den Krieg im Donbass zu beenden. Aber er war nicht überzeugt von der Unterstützung der federführenden Vermittler in diesen Gesprächen - die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron – für die Ukraine. Er fühlte sich alleingelassen, von allen Seiten - und hatte Angst davor, wie diese Gespräche mit Putin wohl laufen würden. Er hat viel Zeit und Arbeit in die Vorbereitung dieser Gespräche investiert, aber sie liefen nicht gut. Ich denke, dass er zu diesem Zeitpunkt, als er sich vorbereitet hat, die Einsamkeit der ukrainischen Position gefühlt hat. Das Land schien keine Verbündeten zu haben, die wirklich hinter ihm standen und ihm helfen wollten."
Wann haben Sie das letzte Mal mit ihm oder seinem Team gesprochen?
Ich war das letzte Mal im Oktober 2023 in der Ukraine, also vor ungefähr sechs Monaten. Damals bin ich mit dem Präsidenten in seinem Zug nach Odessa gefahren.

Aber Sie haben fortwährend Kontakt in die Ukraine?
Natürlich.
"Die Führung muss eine neue Message finden"
Im Moment scheint sich der Kriegsverlauf zuungunsten der Ukrainer zu entwickeln. Können Sie die Atmosphäre dort beschreiben?
Es gibt nun ein Verständnis dafür, wie lang und schwierig dieser Krieg sein wird, dass der Sieg nicht einfach so um die Ecke kommt. Das ist eine schmerzhafte Feststellung. Die ersten eineinhalb Jahre nach der Invasion haben Selenskyj und sein Team den Menschen ja erzählt, dass der Sieg sicher ist: Geh zum Militär, und du wirst Teil dieses heroischen Siegs der Ukraine sein. Jetzt funktioniert diese Ansage nicht mehr und die politische Führung muss eine neue Message finden, um die Leute zum Weiterkämpfen zu motivieren, zum Eintritt ins Militär und dazu, nicht in Depression zu verfallen. Das ist ein sehr ernstes Problem, auch für einen Meister der Kommunikation wie Selenskyj. Die größte Herausforderung dabei ist die Rekrutierung von Soldaten, ein politisch hochsensibles Thema, das große Frustration und Angst in der Gesellschaft verursacht. Schließlich wird versucht, Menschen dazu zu zwingen, im Militär zu dienen und ihre Bürgerpflicht zu tun.
Also stimmt die Wahrnehmung, dass er in der Bevölkerung an Popularität verliert?
Ja, das sieht man an den Meinungsumfragen sehr deutlich: Zu Beginn der Invasion lagen seine Zustimmungswerte bei fast 90 Prozent, jetzt liegen sie bei etwa 60. Das ist allerdings immer noch ein hoher Wert. Mir fällt kein anderer europäischer Staatschef ein, der da mithalten könnte - ganz bestimmt nicht der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz. Und auch nicht US-Präsident Joe Biden.
Sie haben gerade Kanzler Scholz angesprochen. Was halten die Menschen in der Ukraine von der deutschen Debatte um die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern – und von seinem "Nein" dazu?
Ich kann Ihnen von einem Gespräch mit Selenskyj im April 2022 erzählen, also kurz nach Beginn der Invasion. Damals war er sehr frustriert über die deutsche Position. Er sagte, es scheine, als würde Deutschland versuchen, die Tür zu einer Normalisierung der Beziehungen mit Russland irgendwann in der Zukunft ein kleines Stück weit offenzulassen. Heute hat sich das verändert, denke ich. Deutschland ist ein deutlich aktiverer und verlässlicherer Unterstützer geworden.

Selenskyj-Biograf Simon Shuster: "Den Dritten Weltkrieg verhindern"
Sie haben im April 2022 auch mit dem Bundeskanzler gesprochen. Was hat er Ihnen gesagt?
Er beschrieb mir, dass er die Verantwortung dafür spüre, einen Dritten Weltkrieg zu verhindern, den Einsatz von Nuklearwaffen und jegliche weitere Eskalation. Diese Argumentationslinie sehen wir jetzt auch bei Taurus und die Ukrainer können sie nachvollziehen. Aber Selenskyjs Standpunkt ist, dass gar keine weitere Eskalation mehr möglich ist: Russland hat bereits jede denkbare Rote Linie überschritten. Hinzukommt, dass die Diskussionen in der Vergangenheit bei anderen Waffensystemen sehr ähnlich waren. Warum das Taurus-System nun etwas spezielles, etwas anderes sein soll, ist für die Ukrainer schwer zu verstehen. Dieser ewige Kreislauf frustriert sie: Der Westen denkt monatelang darüber nach, wie Russland auf die Lieferung einer bestimmten Waffengattung reagieren wird. Dann wird sie geschickt - und an Russlands Verhalten ändert sich nichts. Deshalb sind die Roten Linien, über die im Westen diskutiert wird, für die Ukrainer kein logischer Grund, den Taurus zurückzuhalten. Russland versucht, die gesamte Ukraine zu vernichten - eine höhere Eskalationsstufe gibt es für sie nicht.
In Deutschland wird aktuell auch über Friedensverhandlungen debattiert und darüber, den Krieg "einzufrieren". Was halten Sie davon? Und was die Menschen in der Ukraine?
Darüber habe ich mit Selenskyj noch im Oktober gesprochen – und mit hohen Militärs. Für sie ist sehr klar, dass ein Einfrieren des Krieges bedeuten würde, dass die Ukraine verliert. Ein Einfrieren würde Russland die Möglichkeit geben, sich auf die nächste Attacke vorzubereiten. Gleichzeitig würde es die Position der Ukraine hinsichtlich der Unterstützung durch die internationalen Partner schwächen. Mit der Zeit würde ein Einfrieren des Krieges deshalb zu einer neuen Invasion führen – und in der Ukraine ist man nicht sicher, dass die Möglichkeiten, dagegen anzukämpfen dann besser wären. Aber man ist sich sicher, dass Russland eine neue Invasion beginnen würde, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet. Deshalb arbeiten die Ukrainer an einer Friedensformel, die garantieren soll, dass Russland nicht wieder angreifen kann. Wer fordert, dass die Ukraine in Friedensverhandlungen gezwungen oder der Konflikt eingefroren werden sollte, versteht Selenskyjs Bemühungen um einen Friedensprozess nicht oder will schlicht nichts davon hören.
Möglicher Friedensvertrag für die Ukraine: "Niemand glaubt den Russen"
Wie sieht die Friedensformel der Ukrainer aus?
Interessant – und komplex. Sie fordern, dass sich Russland aus allen besetzten Gebiete zurückzieht, auch von der Krim, und das Land verlässt. Außerdem sollen Kriegsverbrecher bestraft und die Lebensmittelsicherheit garantiert werden. Russland soll die Versorgung mit Nahrungsmitteln aus der Ukraine nicht mehr durch die Blockade von Schiffen im Schwarzen Meer gefährden können. Das Hauptproblem ist allerdings, dass die Ukrainer kein Vertrauen in Putin haben, auch nicht in die Russen und schon gar nicht in irgendein Stück Papier, das Putin vielleicht unterzeichnet. Niemand glaubt den Russen. Deshalb versuchen die Ukrainer, eine Architektur für zukünftige Friedensgespräche zu entwickeln, die garantiert, dass Russland jegliche Versprechen einhält, die es am Verhandlungstisch macht.
Ist Wladimir Putin überhaupt bereit zu Verhandlungen?
Nun, erst vor ein paar Tagen hat der frühere russische Präsident Dmitri Medwedew, heute stellvertretender Vorsitzender des Sicherheitsrates, gesagt: Ihr wollt über Verhandlungen sprechen? Unsere Position ist, dass die gesamte Ukraine ein Teil Russlands wird und aufhört zu existieren. Es frustriert mich, dass die Leute immer behaupten, Selenskyj würde nicht verhandeln wollen. Er ist nicht das Problem! Diese Darstellung ist zutiefst unehrlich. Und zu fordern, den Konflikt einfach einzufrieren, ist fast schon populistisch, weil es so einfach klingt.

Wo wäre die Ukraine heute ohne Selenskyj?
Ich will mir keine alternativen Wirklichkeiten vorstellen, die Realität ist interessant genug. Aber ich denke, seine Kriegsdiplomatie und seine Bemühungen, die Aufmerksamkeit der Welt auf die Ukraine gerichtet zu halten, sind sehr effektiv. Natürlich versuchen Führer, deren Land angegriffen wird, internationale Unterstützung zu gewinnen. Das hat auch Selenskyjs Vorgänger, Präsident Petro Poroschenko, probiert, fünf Jahre lang, aber mit geringem Erfolg. Ich will nicht sagen, dass Selenskyj der einzige Grund dafür ist, dass die Welt sich hinter der Ukraine versammelt und so viele Hilfen bereitstellt, aber er ist ein sehr wichtiger Faktor. Er ist erfolgreich damit, die Menschen weltweit davon zu überzeugen, dass es hier nicht nur um einen territorialen Disput an den Grenzen der früheren Sowjetunion geht, sondern um einen Krieg, der uns alle betrifft, alle unsere Werte berührt und uns alle in Gefahr bringt. Und dass wir deshalb alle dafür verantwortlich sind, ihn zu beenden: mit einem Sieg der Ukraine. Ich weiß nicht, ob ein anderer Führer – vielleicht weniger charismatisch oder weniger bewandert mit Social Media und TV – das geschafft hätte.
Simon Shusters Buch "Vor den Augen der Welt. Wolodymyr Selenskyj und der Krieg in der Ukraine" ist bei Goldmann erschienen und kostet 26 Euro.