Ukraine: Kopfschüsse aufs eigene Volk

In Kiew herrscht Krieg. Die Regierung teilt scharfe Waffen gegen die Demonstranten aus. Mehr als 60 Menschen sterben. Auch Teile der Opposition werden immer gewalttätiger.
Kiew - Im Morgengrauen ist die Hoffnung gestorben. Die leise Hoffnung auf Gewaltverzicht, auf einen politischen Wechsel, auf Frieden über dem Maidan. Doch seit Donnerstagmorgen wird wieder geschossen in Kiew. Der am Mittwochabend von Oppositionsführern und Regierung überraschend ausgehandelte Waffenstillstand hat nicht mal 12 Stunden lang gehalten. Kiew ist im Krieg.
60 Menschen sind alleine am Donnerstag gestorben. Hunderte sind verletzt. Damit steigt die Zahl der Toten seit Dienstag auf über 80. Aus den Lobbys der Hotels rund um den Platz sind Leichenhallen geworden. Auch zwischen den Barrikaden auf den Straßen liegen Tote, notdürftig zugedeckt mit Plastikplanen oder Decken. Vor einer Gruppe von Körpern brennt eine Kerze. Ringsherum tobt der Wahnsinn.
Unklar ist, wer den Waffenstillstand zuerst gebrochen hat. Der „Rechte Sektor“ hatte am frühen Donnerstagmorgen verkündet, man fühle sich nicht an die Waffenruhe gebunden. Mehrere Medien berichten, dass Demonstranten ins Regierungsviertel gestürmt waren, Gebäude besetzt und Polizisten getötet hatten. Vitali Klitschko macht die Polizei verantwortlich. Wer recht hat? Das weiß niemand. Über den gewalttätigen Teil der Opposition haben die politischen Führer längst die Kontrolle verloren.
Klar scheint nur: Die Regierungstruppen setzen seit gestern Scharfschützen ein. Die beschießen auch Journalisten, die von den Balkonen des „Ukraine“-Hotels auf den Maidan filmen wollen. ARD-Reporterin Golineh Atai twittert das Bild eines Einschussloches im Fensterrahmen.
Erst mal keine Live-Interviews auf dem Balkon. Wer schiesst auf Journalisten? pic.twitter.com/AFleUANR74
— Golineh Atai (@GolinehAtai) 20. Februar 2014
Spiegel-Reporter Benjamin Bidder twittert Fotos von Snipern mit gelben Armbinden rund um den Maidan – „es heißt, das seien Männer des Geheimdienstes SBU“, schreibt er.
Gemeint sind diese Soldaten hier: "?? ??? ?? ? ????? ?????? ? ?????" pic.twitter.com/zUklGH4Iak” #euromaidan
— Benjamin Bidder (@BenjaminBidder) 20. Februar 2014
Auch ukrainische Ärzte berichten von vielen Toten, die nur eine einzelne, gezielte Schusswunde in den Kopf vorweisen. Am Nachmittag bestätigt Innenminister Vitali Sachartschenko dann: „Die ukrainischen Sicherheitskräfte haben Schusswaffen für den Anti-Terror-Einsatz erhalten. Sie dürfen mit scharfer Munition eingesetzt werden.“
Das schlimmste Szenario ist wahr geworden: Die Machthaber der Ukraine schießen auf ihr eigenes Volk. Und die internationale Gemeinschaft schaut weitgehend machtlos zu. Gestern wollten die EU-Außenminister über Sanktionen wie Reise-Beschränkungen und eingefrorene Auslandskonten entscheiden. Außerdem erwäge man ein Waffenembargo.
Während auf dem Maidan Menschen um ihr Leben kämpften, empfing Janukowitsch Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD), seinem polnischen Kollegen Radoslaw Sikorski und dem französischen Minister Laurent Fabius. Die Minister wurden stundenlang durch Kiew gekurvt, weil nicht klar war, wo sich der Präsident vor den Demonstranten versteckt hatte. Am Ende fanden sie ihn doch noch im Präsidentenpalast, mussten aber zu Fuß an einer Straßensperre vorbei.
Das Gespräch dauerte ungewöhnlich lange, die Minister sagten sogar den Flug zum EU-Außenminister in Brüssel ab. Unterbrochen wurde es nur durch einen Anruf von Bundeskanzlerin Angela Merkel. In dem Telefonat verurteilte Merkel die Gewalt scharf und gab Janukowitsch die Hauptverantwortung.
Immer mehr Menschen versuchten derweil, aus Kiew herauszukommen. Die Ausfallstraßen waren verstopft. Supermärkte geplündert, an vielen Bankautomaten gab es kein Geld mehr.
Zynische Worte findet Russland mitten in dieser Tragödie: „Präsident Janukowitsch sollte nicht zulassen, dass ihn seine Gegner als Fußabtreter benutzen“, sagte Ministerpräsident Dmitri Medwedew. Mit anderen Worten: Für sein brutales Durchgreifen hat Janukowitsch die volle Rückendeckung Moskaus.
In Russland interessiert sich die Mehrheit derzeit ohnehin vor allem für die fröhlichen Winterbilder aus Sotschi. Am Sonntag soll wie geplant die fröhliche, bunte Schlussfeier steigen. Während im Nachbarland Menschen sterben.