Überhangmandate: Regieren gegen die Mehrheit?
BERLIN - Nach dem Wahlsonntag könnte es erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine Regierung geben, die nicht die Mehrheit des Volkes hinter sich hat: Wegen des trickreichen Wahlrechts würden Schwarz-Gelb wohl schon 45 Prozent reichen.
Bekommt Deutschland eine neue Regierung, die im Volk gar keine Stimmenmehrheit hinter sich hat? Es könnte sein, dass eine Spezialität unser Wahlrechts diesmal erstmals in der Geschichte der Republik das Wahlergebnis grob verzerrt – und die Aussicht darauf hat am Wochenende das Wahlkampffinale spürbar abgeheizt. Profitieren könnte Schwarz-Gelb.
Noch liegt diese Konstellation zwar in den meisten Umfragen vorne – aber der Vorspung schmilzt. Dementsprechend auf der Palme sind SPD und Grüne. Sie befürchten, dass es für Union und FDP auch beim Verlust der mathematischen Mehrheit so auf jeden Fall zur Regierungsmehrheit langt.
Auslöser des Hickhacks sind die sogenannten Überhangmandate. Sie sorgen dafür, dass eine Partei im Bundestag stärker werden kann, als es ihr nach dem eigentlich entscheidenden Zweitstimmenergebnis zusteht. Nämlich dann, wenn die Partei in einem Bundesland mehr Erststimmenkandidaten durchbringt, als nach dem Zweitstimmenergebnis eigentlich auf sie entfallen. Die siegreichen Direktkandidaten dürfen dann trotzdem ins Parlament – das sind die Überhangmandate.
Wahlforscher schätzen, dass bei dieser Wahl die Union bis zu 20 Parlamentssitze mehr erhalten könnte, als ihr eigentlich zustehen. Eine Koalition aus Union und FDP könnte dadurch schon mit 45 Prozent der Stimmen auf eine absolute Mehrheit im Bundestag kommen.
Kanzlerin Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat schon erklärt, dass sie darin kein Problem sieht: Sie werde auch mit einer knappen Mehrheit regieren, selbst wenn sie durch diesen Sondereffekt zustandekomme, sagt Merkel: „Ein Überhangmandat ist kein Mandat zweiter Klasse“. Das sieht sie SPD ganz anders: Wenn eine Koalition sich nur auf Überhangmandate stütze, handele es sich um eine „illegitime Mehrheit“, so der SPD-Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann. Die Mehrheit würde „auf einem verfassungswidrigen Wahlrecht beruhen“.
Auch Verfassungsrichter sind skeptisch
Das ist eine Anspielung darauf, dass Karlsruhe in der Tat die Überhangsmandate skeptisch sieht. Die Verfassungsrichter erklärten schon im vergangenen Jahr zwar nicht die Zusatzsitze als Ganzes, wohl aber verzerrende Effekte für grundgesetzwidrig. Die Richter zwangen den Bundestag zu einer Neuregelung, ließen ihm dazu aber Zeit bis 2011. Somit ist die Bundestagswahl am nächsten Sonntag die letzte, die noch nach dem alten Recht stattfinden kann.
FDP, Linke und Grüne hatten erst kürzlich versucht, dies noch zu verhindern, scheiterten aber, weil die SPD nicht mitmachte. Nun dürfe sich die SPD also auch nicht aufregen, kritisierte Linke-Politikerin Petra Pau: „Wer sich vordem so klein macht, wie die SPD, sollte hernach auch keine großen Sprüche klopfen.“
Doch Experten rechnen schon jetzt damit, dass auch die Wahl vom nächsten Sonntag die Verfassungsrichter beschäftigen wird. Wenn sich eine Regierung auf eine solche noch nie dagewesene Mehrheit stütze, werde es mit Sicherheit Wahlanfechtungen geben, prohezeit der Friedrichshafener Politikprofessor Joachim Behnke im „Spiegel“.
Früher kamen Überhangmandate CDU/CSU und der SPD stets gleichermaßen zugute – und sie stärkten die ohnehin in Führung liegenden Kräfte. Weil die Union heuer weit vor der SPD liegt ist es anders: Profitieren würde von Überhangmandaten praktisch nur die Union.
mue