Türkischer Frühling?
AZ-Redakteur Michael Heinrich über die Massenproteste in der Türkei
München - Als sich im arabischen Frühling in vielen Ländern das unterdrückte Volk erhob, hatte es in der Nachbarschaft einen prominenten Fürsprecher: den türkischen Recep Tayyip Erdogan. Der hatte sein Land in zehnjähriger Amtszeit aus einem orientalisch-verträumten, krisengeplagten Zustand zur Blüte geführt. Das Kurdenproblem scheint im Griff, die Wirtschaft floriert, die Tür zur EU steht wieder ein bisschen offen. Doch die Stimmung kippt.
Wohl im Überschwang des Erfolges reizen Erdogan und seine islamistisch-konservative Regierung jetzt die Grenzen dessen aus, was sie den Türken zumuten können. Tief trifft diese zum Beispiel, dass ein Atatürk-Kulturzentrum zu Gunsten einer Moschee abgerissen werden soll – hat doch Staatsgründer Kemal Atatürk in den 20er Jahren die strikte Trennung von Staat und Religion festgeschrieben.
Und jetzt das: Angeblich existiert eine „Geheime Agenda“ Erdogans, mit der der türkische Staat und seine Gesellschaft islamisiert werden sollen. Alkoholverbote wurde schon in einer Nachtsitzung im Eilverfahren durchs Parlament gepeitscht. Viele Türken, die – trotz ihres islamischen Glaubens – eher westlich orientiert sind, wollen diesen Rückfall in Vor-Atatürk-Zeiten nicht. Jetzt gehen Hunderttausende auf die Straße, weil sie sich von Erdogan und Co. nicht weiter bevormunden lassen wollen. Ob dies der Beginn eines türkischen Frühlings ist, werden die nächsten Wochen zeigen.