Türkei: "Platzt der Pakt, ist das ein Risiko für beide Seiten"
Die Streit mit der Türkei eskaliert. Die AZ hat mit dem Türkei-Experten Ludwig Schulz vom Centrum für angewandte Politikforschung (CAP) der LMU gesprochen.
AZ: Herr Schulz, wie realistisch ist es, dass die Türkei den Flüchtlingspakt mit der EU tatsächlich platzen lässt?
LUDWIG SCHULZ: Durchaus realistisch. Darauf deuten ja die verschiedenen Äußerungen Präsident Erdogans und ranghoher Minister hin.
Was verspricht man sich in Ankara davon?
Dass die europäische Seite durch die Aufkündigung zu irrationalen, antitürkischen Reaktionen gezwungen wird. Dann kann Erdogan sich weiter als Verteidiger der Türkei präsentieren und um Zustimmung für die Verfassungsänderung und für den Ausbau seiner Führungsmacht werben. Außerdem kann die türkische Regierung die Bilder und Nachrichten gut verwerten, wenn sich Flüchtlinge wieder auf den Weg machen, wenn sich Flüchtlinge wieder in Gefahr begeben – und Europa, das seinen humanitären Verpflichtungen aus dem Flüchtlingspakt nicht nachgekommen ist, schaut zu.
Die Vereinbarungen funktionieren "sehr, sehr schleppend"
Wie ist es denn um die Einhaltung des Paktes bestellt?
Es war ausgemacht, dass Europa für jeden illegal auf eine griechische Insel eingereisten Flüchtling, den die Türkei wieder zurücknimmt, einen Syrer aus den türkischen Flüchtlingslagern übernimmt. Das hat bislang nur sehr, sehr schleppend funktioniert. Es wurden 900 Illegale in die Türkei zurückgeschickt – und umgekehrt sind etwa ebenso viele Syrer nach Europa gekommen. Die Zahlen waren eigentlich viel höher angesetzt. Aber die griechischen Behörden auf den Inseln machen nicht mit: Es fehlt an Beamten für die Bearbeitung der Asylverfahren oder die Gerichte sagen, die Türkei ist kein sicheres Herkunftsland für Flüchtlinge, wir können sie nicht zurückschicken. Und die Europäer haben sich nicht bereit erklärt, mehr syrische Flüchtlinge aus den Lagern aufzunehmen. Auch hinsichtlich der vereinbarten Visa-Erleichterungen für Türken geht nichts voran, auch weil Ankara nicht gewillt ist, alle Bedingungen dafür zu erfüllen, vor allem das zu allgemeine Antiterrorgesetz zu präzisieren.
Aber die versprochenen vier Milliarden sind geflossen?
Etwa eine Milliarde fließt seit Jahreswechsel an Organisationen, die sich um Geldkarten kümmern, mit denen mittellose Flüchtlinge einkaufen können. Auch verschiedene andere Projekte, etwa der Bau von Schulen, sind ganz gut angelaufen. Allerdings funktioniert alles langsam und schleppend. Dementsprechend sind die vier Milliarden, die bis Ende des Jahres bezahlt werden sollten, noch nicht ausgeschüttet.
Würden sich wirklich 2,6 Millionen Menschen in Richtung Europa in Bewegung setzen, wenn Ankara ernst macht?
Ich habe mit Migrationsforschern in der Türkei gesprochen, die Untersuchungen in den dortigen Flüchtlingsgemeinden durchgeführt haben und zu dem Ergebnis gekommen sind, dass die Bereitschaft von vielen, nach Europa zu gehen, nicht sehr ausgeprägt ist. Das heißt: Dieses Bedrohungsszenario ist wissenschaftlich nicht eindeutig zu belegen.
"Viele wollen gar nicht nach Europa"
Warum nicht?
Viele Syrer, Iraker oder Afghanen wollen gar nicht nach Europa. Sie wollen diese gefährliche Reise nicht auf sich nehmen – zumal die Bilder aus Idomeni auch bei den Migranten in der Türkei angekommen sind. Außerdem wollen vor allem die Syrer in der Nähe ihrer Heimat bleiben, um gegebenenfalls zurückzukehren.
Wie würde eine Grenzöffnung konkret aussehen?
Es gibt zwei Möglichkeiten: Was die Seegrenze betrifft, kann die türkische Küstenwache wegsehen, wenn sich Boote in Bewegung setzen – und sobald diese europäische Gewässer erreichen, sind die Europäer zuständig. An der Landgrenze zu Bulgarien gibt es mittlerweile einen Grenzzaun. Hier kann es sein, so hat es Erdogan einmal angekündigt, dass ausreisewillige Migranten in Busse gesetzt, zur Grenze gefahren werden und die türkische Seite verlassen dürfen. Allerdings warten dann gegenüber die bulgarischen oder auch die griechischen Grenzer – und lassen die Leute nicht rein.
Die Flüchtlinge würden also im Niemandsland stranden.
Ja. Die Bilder von dort würden dann zwar auch auf die türkische Seite zurückfallen, weil die Bevölkerung sie kritisch aufnehmen würde. Aber die Regierung würde vermutlich alles daran setzen, den Fall so darzustellen, dass die Europäer ihren Verpflichtungen nicht nachkommen. Es ist ein Vabanquespiel, ein Risiko für beide Seiten.