Trotz Propaganda und Krieg gegen die Ukraine: Wladimir Putin geht die Jugend Russlands von der Fahne

Moskau - Das staatlich-russische Umfrageinstitut WZIOM steht im Ruf, vor allem Ergebnisse zu präsentieren, die die Meinung der Regierenden im Kreml bestätigen. Das gelte noch mehr seit Kriegsbeginn, sagt der kritische Moskauer Soziologe Boris Kagarlizky im Gespräch mit der AZ.
Die Ergebnisse würden verfälscht, da Menschen, deren Meinung von der Regierungslinie abweicht, die Auskunft verweigern oder dem ihnen fremden Interviewer die von oben gewünschten Antworten geben. Kagarlizky wurde wegen seiner unbequemen Ansichten, mit denen er nicht hinter dem Berg hält, vor etwa einer Woche verhaftet.
Umfrage nach Verhältnis von Russland zu Europa: Meinung der Jungen weicht von Regierungslinie ab
Umso spektakulärer ist es, wenn sogar bei einer WZIOM-Erhebung ein Resultat herauskommt, das gar nicht nach dem Geschmack der Mächtigen ist. So befragte das Institut die Russen nach dem Verhältnis von Russland zu Europa und der Europäischen Union. Die Antworten folgten in der älteren Bevölkerung mehrheitlich der Regierungslinie, wichen jedoch bei den 18- bis 24-jährigen Russen konsequent vom vorgegebenen Kreml-Mainstream ab.
67 Prozent dieser Altersgruppe waren auch über ein Jahr nach dem Beginn des Ukrainekriegs der Meinung, Russland solle danach streben, eine gleichberechtigte, partnerschaftliche Beziehung zur Europäischen Union aufbauen. Die Jüngsten waren auch die einzige Altersgruppe, die noch mehrheitlich Hoffnung auf ein besseres Verhältnis zwischen Russland und dem Westen in der Zukunft besaß.

Antiwestliche Stimmung bei regelmäßigen Internetnutzern weniger stark
Das liegt jedoch nicht an einer politisch prowestlichen Ausrichtung der russischen Jugend. Eine Annäherung an die Nato oder eine Mitgliedschaft Russlands in der EU lehnten auch die 18- bis 24-Jährigen in der Umfrage mehrheitlich ab.
Das positivere Bild der jungen Russen von Europa basiert eher auf Einflüssen und Kontakten in der Jugendkultur und internationalen Vernetzung im Internet, die bis zum Kriegsausbruch noch weitgehend unbeschränkt war. Das zeigt auch die Tatsache, dass die antiwestliche Stimmung in der Umfrage bei regelmäßigen Internetnutzern weniger stark ausgeprägt war.
Nach dem Angriff auf die Ukraine: Viele Russen haben ihre Heimat verlassen
Zur nächstälteren Gruppe der 25- bis 34-Jährigen gibt es bei diesen in den letzten Monaten erhobenen Daten große Unterschiede. Dort entsprechen die Ergebnisse stärker den Erwartungen der russischen Regierung.
Hier sollte man aber berücksichtigen, dass seit dem Kriegsausbruch geschätzt 800.000 bis 900.000 Russen ihr Land verlassen haben und diese laut einer Umfrage des Migranten-Hilfsprojekts OK Russians fast zur Hälfte genau aus dieser Altersgruppe stammen. Der Massenexodus liberal gesinnter Jungakademiker führte zu einer Stimmungsverschiebung bei den zurück gebliebenen.
Putins Politik: "Mit dem Rücken zur Zukunft in die Zukunft"
Doch es ist nicht nur kulturelle Verbundenheit, die junge Russen von der von oben propagierten, isolierten und totalitären "Russischen Welt" abschreckt.
Der russische Politologe Andrej Kolesnikov beschreibt in einer Analyse für Carnegie Putins Ideologie als eine archaische "Entmodernisierung". Russland gehe "mit dem Rücken zur Zukunft in die Zukunft".

Was die Oberen wollen, ist ein Weg zurück in die Vergangenheit, der die Jugend keines entwickelten Staates dieser Welt begeistern würde. Zusätzlich sind es die Jungen, die beim Kampf gegen die vom Westen unterstütze Ukraine ihr Leben an der Front riskieren sollen, während die Älteren den Krieg am ideologisch gefilterten Fernsehgerät von Zuhause verfolgen.
Staatsnaher Massenverband soll kritische Stimmung der Jugend eindämmen
Die russische Regierung weiß um die kritische Stimmung der Jugend und bekämpft sie, wie aktuell alles missliebige im Land, mit Härte. Ideologischer Unterricht an Schulen und Universitäten soll Jüngere auf Kurs bringen. Man hofft mit der Indoktrination der Kinder und Jugendlichen, etwa in einem entstehenden staatsnahen Massenverband, eine nachfolgende Generation zu schaffen, die weniger rebellisch ist.
Wer unter den aktuellen jungen Erwachsenen abweichende Meinungen offen äußert, dem droht die volle Härte des dafür eigens verschärften russischen Strafrechts.
Erreichen wird der Kreml damit, dass auch von der aktuellen Generation junger Studenten und Auszubildenden, die mit dem rückschrittlichen Kurs nicht einverstanden sind, viele auswandern werden, sobald sie über entsprechende finanzielle Möglichkeiten verfügen. Die Altersgruppe über ihnen hat das vorexerziert.
Langfristig wird die ultrakonservative Politik des russischen Establishments so die bereits massive Überalterung des Landes verstärken. Nur ein oberflächliches Ziel lässt sich für die Mächtigen im Kreml auf diesem Weg erreichen: Wenn genug unzufriedene Junge Russland verlassen haben, stimmt auch wieder das Ergebnis der Umfragen.