Terror-Albtraum in Nigeria
Abuja - In der nigerianischen Hauptstadt Abuja tagt derzeit das Weltwirtschaftsforum – und im armen Norden des Landes tobt der Terror. In der Nacht zum Dienstag hat die islamistische Sekte Boko Haram das Dorf Amboru überfallen und dort ein Massaker angerichtet: Mehr als 200 Menschen wurden ermordet, die Leichen werden immer noch gezählt. In der gleichen Region wurden elf junge Mädchen verschleppt.
Bereits im April hatten die Terroristen in Chabok mehr als 200 Schülerinnen im Alter von 15 bis 18 Jahren entführt. Seit Wochen sind die Mädchen verschwunden, die nigerianische Regierung ist machtlos. Der Chef der Terroristen hat angekündigt, seine Gefangenen als Sklavinnen zu verkaufen.
Seit Mittwoch kommt jetzt endlich Bewegung in die internationale Gemeinschaft: US-Präsident Barack Obama hat ein amerikanisches Expertenteam aus Militär, Polizei und „anderen Behörden“ nach Nigeria geschickt. Damit dürften Geheimdienste gemeint sein. Obama bezeichnete die Verbrechen von Boko Haram als „abscheulich“ und forderte ein gemeinsames Vorgehen der Nationen gegen die Terrororganisation. Das Expertenteam soll die nigerianische Regierung unterstützen und alles dafür tun, dass die Mädchen gefunden und gerettet werden. Auch Großbritannien sicherte „praktische Hilfe“ zu. Dabei geht es vor allem um den Austausch von Geheimdienstinformationen. Beide Länder werden aber vorerst keine Truppen entsenden.
Nigerianische Schülerinnen im Schlaf überrascht
Bei ihrer Entführung am 14.April waren die ahnungslosen Schülerinnen im Schlaf überrascht worden: Im Schutze der Dunkelheit starteten die Terroristen den Überfall auf die Stadt Charbok im Norden Nigerias. In blutigen Gefechten erschossen sie Dutzende Soldaten und brannten 170 Gebäude nieder. Dann drangen die Islamisten in die Schule ein und gaben sich als Sicherheitskräfte aus, die angeblich die verstörten Mädchen in Sicherheit bringen sollten. Als die Boko-Haram-Kämpfer anfingen Feuer zu legen, brach Panik aus.
Zahlreiche Mädchen ergriffen die Flucht. Knapp 300 von ihnen wurden von den Terroristen verschleppt. Ihr Aufenthaltsort ist seitdem unbekannt. Bisher ist es 53 Mädchen gelungen, aus der Gewalt ihrer Entführer zu entkommen. Trotzdem tappt die nigerianische Führung weiter im Dunkeln. Präsident Goodluck Jonathan kümmerte sich hauptsächlich um seinen Wahlkampf und hat lange behauptet, die Lage unter Kontrolle zu haben. Zuletzt musste er aber zugeben, dass von den Mädchen jegliche Spur fehlt.
Die Wut auf die nigerianische Regierung wächst
Seit Wochen kämpfen deren Mütter um Aufmerksamkeit und Hilfe aus dem Ausland: Unter dem Schlagwort „Bringt unsere Mädchen zurück“ (#bringbackourgirls) starteten sie eine Internet-Kampagne und erreichen damit die breite Öffentlichkeit. Auf der ganzen Welt wurde vor den Botschaften Nigerias demonstriert. In den Augen der Eltern tut die Regierung viel zu wenig, um ihre Töchter zu retten, die Wut auf den Staat wird immer größer. Und der scheint die Bewegung unterdrücken zu wollen: Die Frau des Präsidenten ließ sogar zwei der Protest-Anführerinnen verhaften. Ihre Begründung: Sie habe um den Ruf ihres Mannes gefürchtet. Auch die politischen Reaktionen aus dem Ausland blieben lange zurückhaltend.
Erst die grausame Videobotschaft von Abubakar Shekau, dem Chef der Terrorgruppe, hat die Welt am Montag dann wachgerüttelt. Der Islamist schilderte auf erschreckende Weise, was den entführten Mädchen nun bevorsteht: „Ich werde sie alle verkaufen und ich habe einen Markt für sie.“ Frauen seien seiner Ansicht nach als Sklavinnen geboren und bereits im Alter von neun Jahren „reif genug“, um sie zu verkaufen. In einer Schule hätten sie nichts verloren. Er werde deshalb weiter Menschen rauben und sie zu Sklaven machen, seine Religion erlaube das.
Boko Haram verkauft Mädchen
Werden die Mädchen nicht rechtzeitig befreit, erwartet sie ein schlimmes Schicksal: Zwangsheirat, sexueller Missbrauch oder Knochenarbeit bis zum Tode in den Lagern von Boko Haram. Eine Gruppe von Mädchen soll bereits in die Nachbarländer Tschad und Kamerun verkauft worden sein – für umgerechnet neun Euro pro Person.
Muslime aus aller Welt sprechen sich gegen die Taten von Boko Haram aus. In sozialen Netzwerken verweisen sie auf zahlreiche Stellen im Koran, die die religiösen Rechtfertigungen der Terroristen widerlegen. Auch die pakistanische Kinderrechtsaktivistin Malala Yousafzai, die in Pakistan von Taliban niedergeschossen worden war, weil sie sich auf das Recht von Mädchen auf Bildung stark gemacht hatte, äußerte sich zum Schicksal der Entführten. Der „New York Times“ sagte sie: „Die entführten Mädchen sind meine Schwestern.“
Abubakar Shekau ist der Anführer der Terrorgruppe Boko Haram. "Ich genieße es zu töten", sagt er.
„Westliche Bildung ist eine Sünde“, das bedeutet Boko Haram übersetzt. Seit zehn Jahren kämpft die Gruppe für einen islamistischen Gottesstaat und die Einführung der Scharia im Norden Nigerias. Allein in diesem Jahr sind mindestens 1500 Menschen den Anschlägen der Radikalen zum Opfer gefallen. Wie viele Mitglieder die Gruppe hat, ist unklar, sie soll besser bewaffnet sein als die nigerianische Regierung. Verbindungen zu El-Kaida und zur islamistischen Shebab-Miliz werden der Gruppe nachgesagt.
Abubaka Shekau: Intelligent und brutal
Die USA hat auf ihren Anführer, Abubaka Shekau, ein Kopfgeld von sieben Millionen Dollar ausgesetzt. „Er spricht fast nie und er ist furchtlos“, beschreibt der Journalist Ahmed Salkida den Mann, dessen Alter unbekannt ist. 2009 wurde Shekau Oberhaupt der Terrorgruppe, von seinem angeblichen Tod wird immer wieder berichtet. Und immer wieder widerlegt er in provokanten Videos die Gerüchte.
Ansonsten hält sich Shekau im Hintergrund, selbst bei Boko Haram hat er nur zu wenigen Kontakt. Der ehemalige Theologiestudent gilt als äußerst intelligent – und brutal. „Ich genieße es, denjenigen zu töten, den Gott mir befohlen hat zu töten“, sagt er in einer seiner Videobotschaften.
Frauen sind nicht viel wert
Die Studie der Kinderrechtsorganisation Save the Children zeigt es erneut: Die Lebenssituation von Frauen und Kindern ist in Nigeria verheerend. Das Land ist neben dem Kongo und Somalia Schlusslicht, was Gesundheit, Schulbildung und Status von Frauen angeht. So ist es kein Zufall, dass die islamistische Terrorsekte Boko Haram Mädchen aus einer Schule entführte. „Mädchen sollten einfach nur heiraten“, sagt Abubakar Shekau.
Scharia im Norden
Besonders im Norden des Landes haben muslimische Frauen kaum Rechte. Hier herrscht das Scharia-Recht, also das religiöse Gesetz des Islam. Amnesty International berichtet von Fällen, in denen vergewaltigte Frauen wegen „Unzucht“ zu Peitschenhieben verurteilt wurden. In einigen Bundesstaaten ist Frauen das Busfahren gemeinsam mit Männern verboten. Menschenrechtsorganisationen nehmen an, dass in Nigeria mehr als ein Drittel der Frauen schon Opfer von sexueller, körperlicher oder seelischer Gewalt wurden.
Das Land ist eine Wirtschaftsmacht – aber die Bevölkerung merkt davon nichts.
Radikale Gruppen haben es leichter, wenn die Menschen unzufrieden sind. So auch in Nigeria. Es ist der bevölkerungsreichste Staat Afrikas, mit rund 168 Millionen Einwohnern. Im wirtschaftlich gesünderen Süden des Landes leben mehr Christen, der ärmere Norden ist muslimisch geprägt. Nigeria ist in der jüngeren Vergangenheit wirtschaftliche gewachsen – dank der sehr großen Öl- und Gasvorkommen. Über 90 Prozent der Deviseneinnahmen und 80 Prozent der staatlichen Einnahmen stammen von Ölexporten. Nigeria ist somit der achtgrößte Erdöl-Exporteur. Auch das verflüssigtes Naturgas aus Nigeria ist angesichts der Krise mit Gaslieferant Russland eine Option für den Westen.
Nigeria ist Wirtschaftsmacht in Afrika
Ebenso boomen der Mobilfunkmarkt und die Baubranche in dem westafrikanischen Land. Nigeria hat sich noch vor Südafrika zur stärksten Wirtschaftsmacht auf dem Kontinent gemausert. Wegen der Ressourcen ist es für den Westen und für Investoren so interessant. Doch der Boom hat die Mehrheit der nigerianischen Bevölkerung noch nicht erreicht. Mehr als die Hälfte lebt unterhalb der Armutsgrenze, besonders junge Menschen sind arbeitslos. Korruption ist ein großes Problem in dem Land am Atlantischen Ozean. In der Korruptions-Liste von Transparency International liegt Nigeria auf Platz 144 von 177.
Auch die Landwirtschaft hinkt hinterher: Der inländische Nahrungsmittelbedarf kann nur durch Importe gedeckt werden. Dass die wirtschaftlichen Zahlen über die Realität in Nigeria hinwegtäuschen, weiß auch Präsident Jonathan Goodluck. Auf Facebook schrieb das umstrittene Staatsoberhaupt: „Ich persönlich kann nicht feiern, solange nicht alle Nigerianer die positiven Auswirkungen des Wachstums spüren. Zu viele unserer Bürger leben immer noch in Armut.“