Taliban dringen in das Stadtzentrum von Kundus vor

Kabul - Die radikalislamischen Taliban haben die Hauptstadt der nordafghanischen Provinz Kundus angegriffen und liefern sich bis ins Stadtzentrum Gefechte mit Sicherheitskräften. Das bestätigte am frühen Montagabend (Ortszeit) das Provinzratsmitglied Saied Assadullah Sadat.
Seit dem frühen Abend kämpften Taliban mit Sicherheitskräften in der Nähe des Hauptquartiers des Geheimdienstes und vor dem Armeerekrutierungsbüro. Am Morgen hatten sich die Gefechte am nördlichen Stadtrand abgespielt.
"Sie haben den Hauptplatz noch nicht eingenommen, aber sie sind nahe dran", sagte Sadat. "Wenn die Regierung nicht schnell agiert, fällt die Stadt heute Nacht." Der Sender Tolo TV berichtete hingegen, der "Hauptplatz und viele Stadtteile" seien bereits "überrannt" worden.
Zuvor hatte stundenlang relative Ruhe geherrscht. Aus Sicherheitskreisen hieß es am Nachmittag noch, dass sich 100 bis 110 Kämpfer in mehreren Häusern am nördlichen Stadtrand verschanzt hätten. "Wir bewegen uns langsam, weil die Taliban sich in Wohngebieten verstecken", sagte Polizeisprecher Mahfosullah Akbari.
Der Angriff hatte gegen zwei Uhr morgens begonnen. Auf beiden Seiten soll es Opfer gegeben haben. Zahlen wurden zunächst nicht bekannt. Der Sprecher der Nato-Mission Resolute Support (RS), General Charles Cleveland, sagte, man koordiniere eng mit den afghanischen Partnern. RS sehe "keinen Beweis für Berichte eines bedeutenden Angriffs".
Taliban-Propagandavideos zeigten Kämpfer an Straßenkreuzungen und auf Plätzen der Provinzhauptstadt. Um welche Plätze es sich handelt, war nicht unmittelbar zu erkennen.
Der Angriff kommt fast genau ein Jahr, nachdem die Taliban die Provinzhauptstadt zum ersten Mal erobert hatten. Ende September und Anfang Oktober 2015 hatten sie Kundus-Stadt fast zwei Wochen lang in ihrer Gewalt; der erste große Gebietsgewinn der Islamisten seit Beginn der internationalen Intervention in 2001 war ein Schock für die afghanische Regierung und ihre Unterstützer.
Ein Bewohner des Stadtzentrums, Mohammad Omid, sagte, alle Läden und Märkte seien geschlossen, die Menschen blieben zuhause. Ein Anwohner, der namentlich nicht genannt werden wollte, sagte: "Meine Familie und ich sind in einem Keller nur einen Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Die Taliban sind draußen vor unserem Haus und auf den Dächern der Nachbarn. Wir hören Schüsse und Jets und Helikopter. Wir haben Angst rauszugehen."
Die Provinzhauptstadt ist seit Monaten von Aufständischen umzingelt. Die Taliban halten Gebiete in fast allen sechs Bezirken. Im Juli hatten sie die Hauptstädte von Kala-e Sal und Dascht-e Artschi erobert. Sicherheitskräfte haben diese teilweise zurückerobert.
In Kundus war bis Ende 2013 auch die Bundeswehr stationiert. Seit März berät wieder eine kleine Gruppe deutscher Soldaten die afghanische Armee, um einen erneuten Fall der Provinz zu verhindern.
An diesem Dienstag beginnt die 11. internationale Geberkonferenz für Afghanistan in Brüssel. Erwartet wird auch Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier. Die Frage, wie den Menschen im Land geholfen werden kann, während die Gewalt zunimmt, steht auf der Agenda.