T wie Tisch, N wie Nasenbohren

Während Politiker diskutieren, ob Deutsch im Grundgesetz festgeschrieben werden soll, schickt der Freistaat Bayern die ersten Sprachberater in Kindergärten. Die AZ war in einer Münchner Einrichtung dabei
von  Abendzeitung
Vorlesen fördert Sprachentwicklung. Erzieherin Stefanie Otto liest Katharina (2), Alexander (3), Lena (1) und Paula (4, v.l.) vor.
Vorlesen fördert Sprachentwicklung. Erzieherin Stefanie Otto liest Katharina (2), Alexander (3), Lena (1) und Paula (4, v.l.) vor. © Siegfried Sperl

Während Politiker diskutieren, ob Deutsch im Grundgesetz festgeschrieben werden soll, schickt der Freistaat Bayern die ersten Sprachberater in Kindergärten. Die AZ war in einer Münchner Einrichtung dabei

Nasenbohren ist schön. Das findet auch die kleine Lena. Ein Jahr ist sie alt, schaut gebannt in das Buch mit dem Titel „Nasenbohren ist schön“ und sagt: „Dadada.“ Ihre Erzieherin Stefanie Otto (31) zeigt ihr den weißen Elefant, der sich genüsslich den Finger in den Rüssel steckt. Auch Paula (3) schaut in das bunte Buch. „Ich bohr’ auch gern in der Nase“, verkündet sie. Und Alexander (3) verrät: „Mein Papa auch.“

In der Evangelischen Kindertagesstätte Neuhausen sind Gespräche über Nasebohren nicht etwa verboten, sondern Sprachförderung. Denn hinter dem Buch vom Popeln steckt die Strategie einer Frau: Anke Ballmann (39). Sie ist eine von 200 Sprachberaterinnen, die die Staatsregierung seit diesem Herbst in Bayerns Kindertageseinrichtungen schickt. Ballmanns Rezept für gute Sprache: Lesen, lesen, lesen.

Ministerin Haderthauer: "Sprache ist der Schlüssel zu Bildung und Integration

Über 44 Millionen Euro kostet die Sprachförderung. Die Aktion ist nötiger denn je: Deutschlands Schüler sind laut Pisa-Studie beim Lesen nur Mittelmaß, vor allem Migrantenkinder schneiden schlecht ab. Das Programm der Staatsregierung setzt im frühen Kindesalter an: „Sprache ist der Schlüssel für Bildung und Integration“, sagt Bayerns Familienministerin Christine Haderthauer zur AZ. „Der Weg zur Sprache wird maßgeblich in Kindertageseinrichtungen geebnet, hier wird die Basis für den späteren Schulerfolg gelegt. Das Sprachberaterprojekt ist deshalb ein wichtiges Instrument, um die Qualität der Bildungsarbeit zu stärken.“

Erzieherin Stefanie Otto, Leiterin der Neuhauser Kindertagesstätte, findet: „Es hapert bei den Kindern am Vokabular. Ihre Welt ist zu klein.“ Nicht nur die Welt der Migrantenkinder – aus zehn verschiedenen Ländern stammen die 111 Kinder in der Einrichtung. Auch Kinder aus deutschen Familien können sich immer schlechter ausdrücken. Hinzu kämen Probleme mit der Grammatik. Ein Kind in der Einrichtung kann zwar sprechen, will aber nicht. Die Pädagogin beantragte die Sprachberatung, im Oktober kam Anke Ballmann, eine studierte Erziehungswissenschaftlerin, in die Einrichtung.

Drei Wochen hatte sie sich zuvor auf Kosten der Staatsregierung zur Sprachberaterin ausbilden lassen. Die ersten vier Tage hospitierte sie im Neuhauser Kindergarten nur, machte sich Notizen. Lob bekommen Stefanie Otto und ihre Kollegen dafür, dass sie wichtige Einrichtungsgegenstände in ihrer Kindertagesstätte beschriftet haben. Auf dem Tisch in der Giraffengruppe prangt der Schriftzug „Tisch“. Auch das Fenster, die Spüle und ein Bild sind beschriftet. Auf dem „Monats-Teppich“ sind alle Wochentage und Monate eingezeichnet und mit Symbolen versehen. Der Sonnenschirm steht für den Juli, die Christbaumkugeln für Dezember. Jeden Morgen üben die Erzieher mit den Kindern, welcher Tag und welcher Monat heute ist. Lernen die Kinder einen Buchstaben, dann kleben die Erzieher ihn an die Fenster. Rezept Nummer eins, so erklärt die Sprachberaterin es den Erziehern, ist Lesen. Deshalb gibt es auch so viele Bücher.

Die Sprachberaterin fordert mehr Geld und Personal für Kindergärten

Nach Feierabend und samstags kommt Anke Ballmann in den Kindergarten. Mindestens 115 Stunden wird sie die Mitarbeiter in Sachen Sprachförderung schulen. „Wir errichten ein Literacy-Center!“, ruft sie und lächelt motivierend. Was das ist? Ein Haus, in dem Kinder spielen können. Wo Formulare, Taschenrechner und Computer rumstehen. Wo die Kinder Buchstaben, Sprache, Kommunikation lernen. Auf Elternabenden sollen die Eltern auf das Projekt eingeschworen werden.

Wenn ein Kind einen Satz falsch bildet, sollen ihnen die Erzieher nicht über den Mund fahren. Sondern: „Wiederholen Sie den Satz einfach richtig“, rät Ballmann. Die Gesprächskultur im Kindergarten will sie demnächst mit der Videokamera aufzeichnen. „Manchmal sagt schon der Gesichtsausdruck, den wir bei der Kommunikation mit Kindern haben, viel über unsere Gesprächskultur aus“, sagt sie. Die Kinder sollen mehr Rollenspiele machen und auch mehr Bewegungsspiele und Mitmach-Lieder. „Sprache hat viel mit Bewegung zu tun“, meint Ballmann.

Einmal in der Woche kommt eine Englisch-Lehrerin, singt mit den Kindern Lieder, zeigt ihnen Bilder. Sind also durch das Sprachberater-Programm alle Probleme am Kindergarten gelöst? Nein, sagt Anke Ballmann: „Die Rahmenbedingungen für Kindergärten müssen verbessert werden: Wir brauchen mehr Material und mehr Personal“, kritisiert sie. Kindergarten-Chefin Stefanie Otto findet aber auch: „So eine kontinuierliche Betreuung wie jetzt durch die Sprachberatung hatten wie noch nie.“

Volker ter Haseborg

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