Stuttgart 21: Auf der schiefen Bahn

Die Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstranten lösen eine bundesweite Debatte über das Großprojekt aus. In der Stadt selbst kämpfen Punks und Bürgertum Seite an Seite.
von  Abendzeitung
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Die Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstranten lösen eine bundesweite Debatte über das Großprojekt aus. In der Stadt selbst kämpfen Punks und Bürgertum Seite an Seite.

STUTTGART Auf einer Demonstration war Christine Oberpaur in ihrem Leben nie gewesen, bis vor einigen Tagen. Eigentlich wählt die 65-Jährige ja CDU, drei Söhne hat die Unternehmersfrau. Worüber soll man sich da schon beschweren. Jetzt steht sie mit einer goldumrandeten Brille und einer Trillerpfeife um den Hals im Stuttgarter Schlosspark im Matsch, zwei Stunden hat sie geschlafen. „Mein demokratisches Verständnis ist heute Nacht den Bach runtergegangen“, sagt sie.

Mit Tausenden hat Christine Oberpaur am Donnerstag gegen Stuttgart 21 demonstriert. Die Umbaupläne am Stuttgarter Hauptbahnhof (siehe unten) mobilisieren die Massen. Die ersten von insgesamt 282 Bäumen im Stadtpark wurden in der Nacht auf Freitag gefällt, die Arbeiter haben eine Schneise geschlagen. Da, wo früher Bäume standen, blickt man jetzt auf die einfahrenden Züge. Doch nicht nur Umweltschützer protestieren. Seitdem die Polizei am Donnerstagabend die Demonstration der Stuttgart-21-Gegner mit Schlagstöcken, Wasserwerfern und Tränengas auflöste, kommt Widerstand aus allen Schichten.

Unverhältnismäßig finden sie den Polizeieinsatz, bei dem etwa 300 Menschen verletzt wurden und an dem sich auf Polizeiseite auch zwei Hundertschaften aus Bayern beteiligten. Rainer Wendt, Chef der Polizeigewerkschaft, verteidigt die Maßnahmen: „Das war angemessen und notwendig.“ Das Einsatzkonzept werde nicht geändert. Baden-Württembergs Regierungschef Stefan Mappus stellte sich zwar hinter die Polizei, rief aber zur Mäßigung auf: „Die Bilder dürfen sich nicht wiederholen“, sagte Mappus. „Es darf keine weitere Eskalation, keine weitere Verletzten bei Demonstranten und Polizisten geben.“

Auch die Bundesregierung drängt darauf, Gegner und Befürworter sollten die Streitigkeiten friedlich klären. Einen Baustopp schloss Regierungssprecher Steffen Seibert aber aus. Den Einsatz wolle die Bundesregierung auch nicht weiter kommentieren. Das Bauvorhaben sei aber „nach allen Regeln der demokratischen Kunst“ verabschiedet worden. Die Bauherren hätten jetzt ein Recht, es Schritt für Schritt umzusetzen.

300 sind am Freitagnachmittag in den Park gekommen. Hippies, Punks, Rentner, Anzugträger, fast jeder trägt ein Anti-Stuttgart-21-Logo am Revers. Die Menschen zeigen sich Bilder von Verletzten des Polizeieinsatzes, sie sind schockiert und wütend. Anton Zeisigs Augen brennen immer noch vom Tränengas. Der Parkschützer würde außerdem gerne mal wieder duschen, das ist aber nicht so leicht, wenn man seit einer Woche im Park unter einem Sonnenschirm kampiert. Zelte sind nicht erlaubt.

Die Gegner haben sich im Park eingerichtet. An einer Versorgungsstation gibt es im Zentrum des Widerstandes Kaffee, Kekse und Früchte, ein paar Meter weiter stehen Dixieklos. „Der Park ist unsere Heimat“, sagt Anton Zeisig.

Auch Christian und Thomas sind gekommen, wie jeden Tag seit fünf Wochen. „Nach der Schule geh ich nur nach Hause und zieh mir alte Klamotten an, dann bin ich immer hier“; sagt Thomas. Die beiden Schüler waren bei den Protesten am Donnerstag in der ersten Reihe. Der 15-jährige Christian schiebt seine Hose nach oben und zeigt auf eine Wunde am Schienbein. „Stahlkappenschuhe“, sagt er. Einen Schlagstock hat er in die Rippen bekommen, Pfefferspray ins Auge, doch er lässt sich nicht entmutigen.

Seine Mutter wollte lieber, dass er zuhause bleibt. Auch am Freitagabend war er bei der Großdemo dabei. 100000 Menschen erwarteten die Veranstalter, so viele wie noch nie. Christoph Landsgesell

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