Stimmung wie auf der Intensivstation
BERLIN - Die SPD nach dem Wahl-Desaster: Dramatische Machtkämpfe und Rücktritte am laufenden Band: erst Hubertus Heil als Generalsekretär, Peer Steinbrück und dann auch noch Frank-Walter Steinmeier, der seine Ambitionen auf den Parteivorsitz aufgibt.
Kein Stein bleibt auf dem anderen: Nach dem Wahldesaster war gestern in der SPD der dramatische Tag der Abrechnung und Umwälzung. Zwischenzeitlich kamen die Verzichts- und Rücktrittserklärungen fast im Halbstundentakt: erst Hubertus Heil als Generalsekretär, dann Peer Steinbrück von allen Ämtern. Dann Frank-Walter Steinmeier, der seine Ambitionen auf den Parteivorsitz aufgibt – aber wenig später zum Fraktionschef gekürt wird. Und parallel der Kampf um Münteferings Erbe an der Spitze der Sozialdemokratie: Favorit ist nun Sigmar Gabriel.
Zentrale Bühne ist die erste Sitzung der neuen, auf 146 Abgeordnete geschrumpften Fraktion. Andrea Nahles und Sigmar Gabriel kommen gemeinsam – ausgerechnet. Seit Stunden kursiert das Modell, dass er Parteichef und sie Generalsekretärin werden soll. Ausgedacht am Vorabend von einer kleinen Runde – und gerade deswegen in der Partei ein bisschen bemurrt. Aber auch der Berliner Klaus Wowereit mischt noch mit. Sein Landesverband beschließt eine Resolution, dass die gesamte alte Garde – Müntefering, Steinmeier und Steinbrück – als Schuldige für das Desaster abtreten müssen. Ein Jungfunktionär am Vormittag zur AZ: „Münte kämpft nun seinen letzten Kampf, um Wowi als Nachfolger zu verhindern. Hoffen wir, dass Steinmeier Personalunion macht.“
Also Fraktions- und Parteichef in einer Person. Das hätte er auch gewollt, sagen Vertraute. Aber im Laufe der Sitzungen sei ihm klar geworden, dass es nicht geht, „weil er immer bei mindestens der Hälfte unserer Leute auf Granit beißt“: als Architekt der Agenda 2010. Die Ersten versuchen noch vor der Sitzung, ihn auch als Fraktionschef zu verhindern. Sie stören sich schon daran, dass er am Wahlabend so dreist zugegriffen hat – trotz des desaströsen Ergebnisses. Naja, sagen andere, sonst habe man ihm immer den fehlenden Biss vorgeworfen. Im Steinmeier-Lager setzt sich die Erkenntnis durch, dass der Versuch des Doppelschlags schiefgehen wird – dass nur ein halber Verzicht wenigstens ein Amt retten kann.
"Wir können nicht bis zur Wahl Hosianna schreien und danach ,Kreuziget ihn!’"
Dann beginnt die Sitzung. Der Erste, der hinschmeißt, ist Hubertus Heil. Der 36-jährige Generalsekretär erklärt den Verzicht auf seinen Posten. Der nächste ist Peer Steinbrück, der draußen vor dem Saal seinen Abgang erklärt (siehe unten).
Drinnen wirbt Wolfgang Thierse für Steinmeier als Fraktionschef: „Er ist die Idealbesetzung. Wir können nicht bis zur Wahl Hosianna schreien und danach ,Kreuziget ihn!’.“ Dieser Satz bekommt an diesem Nachmittag den meisten Beifall. Einige machen ihrem Frust Luft, bis der scheidende Fraktionschef Peter Struck dazwischenfährt: „Leute, wo lebt ihr eigentlich?“ Aber bei den meisten ist die Stimmung seltsam sediert, melancholisch, gedämpft. „Wie auf der Intensivstation“ fühlen sich die Journalisten draußen vor der Tür. Als Steinmeier selbst für ein kurzes Statement rauskommt, gibt es nichtmal das übliche Fragen-Nachgerufe. Ziemt sich irgendwie nicht.
Da hat Steinmeier gerade seinen Verzicht auf den Parteivorsitz erklärt. „Die Verantwortung muss auf mehrere Schultern verteilt werden“, sagt er. Und, als feinen Seitenhieb auf Münteferings berühmten „Mist“-Satz: „Opposition ist eine wichtige Rolle in einer Demokratie.“ Er warnt vor einem „Wettbewerb mit den Populisten“.
Sigmar Gabriel verschwindet ohne ein Wort
Die Fraktion dankt ihm den Verzicht: Mit 88,1 Prozent (126 Ja- und 16 Nein-Stimmen) wählt sie ihn zum Chef. Okay bei so einer Wahlniederlage, heißt es. Beim linken Flügel herrscht Erleichterung, dass er von sich aus den Parteivorsitz aufgegeben und den Weg für eine Doppelspitze freigemacht hat: „Es ist wichtig, dass das nicht einer allein macht“, freut sich Bayerns SPD-Chef Florian Pronold.
Sigmar Gabriel selbst hat sich in der Fraktion zurückgehalten, verschwindet nach der Sitzung ohne ein Wort. Das Tableau mit ihm, dem Pragmatiker, als Chef und der Linken Andrea Nahles als Generalsekretärin ist nun deutlich wahrscheinlicher geworden. Als ihre Stellvertreter sind Klaus Wowereit sowie NRW-Landeschefin Hannelore Krafft im Gespräch. Damit hätte die SPD eine Übergangs-Führung, mit denen die Flügel vorerst leben könnten. Aber, so ein Genosse: „Niemand ist richtig sicher, ob das was bringt.“ Etwas anderes aber war an diesem dramatischen Tag nicht drin.
M. Jox, A. Timmermann