Interview

Statt Euro: Theo Waigel verrät in der AZ, welchen Namen er eigentlich für die EU-Währung wollte

"Mister Euro" Theo Waigel spricht mit der AZ über den befürchteten Rechtsrutsch in Europa, CSU-Chefs auf Reisen, Markus Söders Zukunft in Berlin und die unerotischen Assoziationen des Jean-Claude Juncker.
von  Natalie Kettinger
Theo Waigel war von 1988 bis 1999 CSU-Chef und von 1989 bis 1998 Bundesfinanzminister. Seit 2009 ist er Ehrenvorsitzender seiner Partei.
Theo Waigel war von 1988 bis 1999 CSU-Chef und von 1989 bis 1998 Bundesfinanzminister. Seit 2009 ist er Ehrenvorsitzender seiner Partei. © Philipp von Ditfurth/dpa

München – Theo Waigel, ehemaliger Bundesfinanzminister, langjähriger CSU-Vorsitzender und Architekt des Euro, reflektiert im Gespräch mit der AZ über die aktuellen geopolitischen Herausforderungen und die zentrale Bedeutung des Friedens in Europa. Er teilt persönliche Erlebnisse und erklärt, warum er sich auch noch im hohen Alter leidenschaftlich für die Einheit Europas engagiert.

AZ: Herr Waigel, Sie sind ein Kriegskind. Ihr Vater hat im Ersten Weltkrieg gekämpft und war noch Soldat im Zweiten Weltkrieg, Ihr Bruder ist im Zweiten gefallen. Vor zwei Jahren hat Russland die Ukraine angegriffen. Haben Sie gedacht, dass Sie nochmal einen Krieg in Europa erleben würden?

THEO WAIGEL: Mich begleiten und bewegen Kriege und militärische Auseinandersetzungen mein ganzes Leben: Ich habe den Koreakrieg erlebt – der war zwar weit weg, aber es drohte die Gefahr eines weiteren Weltkrieges –, den Indochinakrieg mit all seinen Weiterungen, die Niederschlagung der Aufstände am 17. Juni 1953 in Ostberlin, 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei.

Von der Gründung der Montanunion 1951 bis heute herrscht zumindest innerhalb der Europäischen Gemeinschaft Frieden.

Ja, das ist wahr. Wobei ich sagen muss, es ist ein riesiger Glücksfall für uns gewesen, dass wir 1989/90 die Chance zur Wiedervereinigung Deutschlands ergriffen haben und sich für die osteuropäischen Staaten die Möglichkeit ergeben hat, Mitglied der Europäischen Union zu werden. Man muss sich in Erinnerung rufen, was vorher an sowjetischer Kampfesmacht in Europa stationiert war: 400.000 Soldaten in der DDR, 8000 Panzer, von den Atomwaffen will ich gar nicht reden. Das Erschreckende an der Gegenwart ist, dass ein so schlimmer, mörderischer Krieg einer Großmacht gegen einen Nachbarn in unmittelbarer Nähe zu uns stattfindet.

Das Jahr 1983: Der CSU-Abgeordnete Theo Waigel sitzt im alten Bundeshaus im Bonn.
Das Jahr 1983: Der CSU-Abgeordnete Theo Waigel sitzt im alten Bundeshaus im Bonn. © IMAGO/Hermann J. Knippertz (www.imago-images.de)

Ehemaliger CSU-Chef Theo Waigel über den erwarteten Rechtsruck: "Deswegen ziehe ich auch mit 85 Jahren noch in diese Wahl-Schlacht"

Was macht es mit Ihnen, dass bei der Wahl zum EU-Parlament nun ein Rechtsrutsch erwartet wird, dass Parteien gute Erfolgsaussichten haben, die die Europäische Union als gescheitert bezeichnen, die Nationalismus propagieren?

Das fordert mich heraus. Es macht mich zornig – und deswegen ziehe ich auch mit 85 Jahren noch in diese Wahl-Schlacht und gebe zum Beispiel dieses Interview: weil mir Europa unendlich viel bedeutet. 1954 saß ich zum ersten Mal am Rhein und sah nach Frankreich hinüber. Da hatte ich noch die schlimmen Gedichte aus den Lesebüchern meiner älteren Geschwister im Gedächtnis: die Hasstiraden gegen Frankreich. Wenn ich heute das Grab meines Bruders in Niederbronn im Elsass besuche, ist der Weg von Kehl nach Straßburg so unproblematisch wie der von Neu-Ulm nach Ulm. Das allein zeigt den großartigen Fortschritt, den wir erleben durften. Von den Hoffnungen, die ich 1957 bei der Verabschiedung der Römischen Verträge hegte, sind fast 90 Prozent in Erfüllung gegangen. Das ist eine einmalige Leistung - und die dürfen wir uns nicht kaputt machen lassen.

Was also ist zu tun?

Man müsste diese politisch Verrückten noch viel stärker mit Fakten konfrontieren: dass der Austritt aus Europa, das Ende der EU, eine Katastrophe für Deutschland wäre; dass wir wieder in die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts und die Jahrhunderte zuvor hineinfallen würden mit unbeschreiblichen Folgen für die Menschen, auch ökonomisch. Diese politisch Irren, die meinen, mit Nationalismus ließen sich die Probleme lösen, müssen mit Fakten, aber auch mit Emotion in die Schranken gewiesen werden.

Können Sie sich erklären, warum Menschen Parteien, die AfD wählen, die vom Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft wird, oder den ultrarechten Rassemblement National von Marine Le Pen in Frankreich?

Das ist nichts Neues. Auch in Staaten, die schon länger Demokratien sind als Deutschland, gibt es dieses Phänomen. Wenn man auf Amerika schaut, auf die Mutter der Demokratie, sieht man im Moment eine gefährliche gesellschaftliche und politische Spaltung. Einen gewissen Kaffeesatz an Verrückten gibt es in jeder Republik. Darum müssen alle Demokraten zusammenstehen und sagen: "Mit diesen Typen ganz rechts und ganz links koalieren wir nicht."

Gespräche mit Rechtspopulisten? "Ich bin für einen Dialog mit den Wählern der AfD"

Sie haben immer für den Dialog mit dem politischen Gegner plädiert, sogar den Schriftsteller Martin Walser zur CSU-Klausur nach Kreuth eingeladen. Gilt das auch für die AfD?

Ich bin für einen Dialog mit den Wählern der AfD – aber ein Dialog mit den führenden Kräften ergibt keinen Sinn. Dialog ist nur mit denen möglich, die dialogfähig sind. Wer sagt "wir werden euch jagen" oder "wir werden euch vor Gericht stellen" und die Zeit von 1933 bis 1945 als "Vogelschiss in der Geschichte" bezeichnet, mit dem kann man keine vernünftige Auseinandersetzung führen, wie ich es sonst mit allen politischen Partnern praktiziert habe. Aus manchen politischen Gegnern sind dadurch politische Freunde geworden – etwa der frühere SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt. Das Grundübel der Weimarer Republik bestand darin, dass kein Dialog mehr stattgefunden hat. Stattdessen hat man sich an Carl Schmitt, diesen unseligen Rechtsphilosophen gehalten, der das Wesen des Politischen im Freund-Feind-Verhältnis gesehen hat – ganz genau wie heute die AfD in Deutschland, Wladimir Putin in Russland und Donald Trump in den USA. Damit muss man sich auseinandersetzen. Denn Politik besteht aus fairem politischem Streit im Dialog und Bereitschaft zum Kompromiss.

Es scheint aber, als ginge die Entwicklung in die entgegensetzte Richtung: Politiker werden im Wahlkampf tätlich angegriffen. Ein Polizist, der helfen wollte, ist gestorben.

Das sind beängstigende Vorgänge, wobei es auch nicht akzeptabel ist, wenn solche Gewalt AfD-Leute trifft. Jede Auseinandersetzung, die nicht mit den Mitteln des Geistes, der Argumentation und demokratisch stattfindet, ist inakzeptabel. Mit Blick auch auf die Straßenkämpfe der Weimarer Zeit müssen wir diese Gewalttaten bekämpfen und mit allen Mitteln des Rechtsstaates angehen.

Ein viel zitierter Satz dieser Tage lautet "auf Worte folgen Taten". Harte Worte kamen auch immer wieder aus der CSU.

Da muss man schon unterscheiden: Es können schon mal harte Worte fallen, aber nie Worte, die zur Verletzung des politischen Gegners auffordern. In der Sache haben unser Vorsitzender Franz Josef Strauß, die beiden Sozialdemokraten Herbert Wehner und Kurt Schumacher, der frühere FDP-Chef Thomas Dehler und andere kraftvoll gestritten, manchmal stärker als heute. Doch die Polemik hatte Tiefgang. Der Unterschied zur AfD oder Trump besteht darin, dass die Integrität des Anderen und die Unabhängigkeit der Justiz akzeptiert wurden.

"Bayern spielt eine wichtige Rolle": Markus Söders Reisen ins Ausland sind notwendig

Zum CSU-Chef von heute: Sie haben unlängst gefordert, Ihre Partei dürfe keine rein bayerische sein und müsse daher unter anderem die Außenpolitik mehr herausstellen. Es scheint, als würde Markus Söder mit seinen vielen Auslandsreisen Ihrem Rat Folge leisten. Zufrieden?

Ja, Reisen sind notwendig. Bayern spielt eine wichtige Rolle in Europa und hat seit 1946 zur Außen- und Verteidigungspolitik Deutschlands Entscheidendes beigetragen: Der Aufbau der Bundeswehr von 1955 bis 1959 war eine gewaltige Aufgabe und wurde von einem bayerischen Verteidigungsminister Franz Josef Strauß bewältigt. Später habe ich als Bundesfinanzminister versucht – und ich glaube, es ist mir auch gelungen –, weltweit das Gesicht der CSU darzustellen. Das ist wichtig. Deshalb halte ich es für richtig, dass der bayerische Ministerpräsident solche Reisen macht. Ich würde ihm raten, so bald wie möglich auch die USA zu besuchen. Denn die Kontakte zu den Vereinigen Staaten werden von allen Parteien in Deutschland zu wenig gepflegt.

Aber musste es denn wirklich ein Besuch bei der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni sein, immerhin Chefin einer postfaschistischen Partei?

Bisher hat Frau Meloni im Europäischen Rat alle wichtigen Entscheidungen mitgetragen – finanzpolitische Dinge und die Hilfen für die Ukraine. Man kann sich nicht alle Partner aussuchen. Ich hatte es in meiner Zeit als Finanzminister mit sieben französischen Kollegen zu tun, von links bis rechts. Mit allen musste ich in den schwierigen Jahren der Vorbereitung des Euro versuchen, eine gemeinsame Plattform zu finden, und es ist auch gelungen. Insofern glaube ich, dass eine Zusammenarbeit mit Rom, einem gewichtigen Partner in der Europäischen Union, notwendig ist. Der EVP-Vorsitzende Manfred Weber hat den Kontakt zu Giorgia Meloni vor etwa einem Jahr ja auch aufgenommen.

Und ist dafür vom CSU-Vorsitzenden Söder gescholten worden.

Heute sehen wir, dass er zu Unrecht kritisiert wurde.

Soll Bayerns Ministerpräsident nach Berlin? "Die Zeiten, als die CSU-Vorsitzenden in der Bundespolitik fungierten, waren nicht die schlechtesten"

Wo wir gerade bei Markus Söder sind. Einer Ihrer Nachfolger als CSU-Vorsitzender, Erwin Huber, hat ihm empfohlen, in die Bundespolitik zu gehen. Wie sehen Sie das?

Das muss er selbst entscheiden. Aber: Die Zeiten, als die CSU-Vorsitzenden in der Bundespolitik fungierten - Franz Josef Strauß etwa und das nehme ich auch für mich in Anspruch -, waren nicht die schlechtesten für die CSU. Doch wie gesagt: Das muss er persönlich entscheiden.

Und damit zurück nach Brüssel: Es wird spekuliert, dass die Parteien von Giorgia Meloni und Marine Le Pen nach der Wahl zusammenarbeiten oder gar eine gemeinsame Fraktion bilden könnten. Was dann?

Dann stehen die Dinge anders. Aber es sollte Frau Meloni ja auch klar sein, dass sie in einem solchen Bündnis in Europa isoliert wäre - und das kann sich Rom nicht leisten. Bei der ökonomischen Situation Italiens ist eine enge Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik und mit den Kräften der Mitte in Europa für das Land wichtiger als die Kooperation mit isolierten Rechtsaußen, zum Beispiel aus Frankreich.

Apropos Frankreich: Wäre es nach den Verantwortlichen im Nachbarland gegangen, hätte die gemeinsame Währung "Ecu" geheißen. Sie "Euro" zu nennen, war Ihr Vorschlag. Wie haben Sie sich damals durchgesetzt?

"ECU" stand für uns Deutsche für "European Currency Unit", also europäische Währungseinheit. Für die Franzosen war "Ecu" der Name einer Münze aus dem Mittelalter. Für uns war das - ganz anders als für die Franzosen - ein kaltes Wort ohne jede Emotion. Dann habe ich mir überlegt, was denn um Himmels willen möglich wäre. "Mark" war nicht durchsetzbar, da hätten höchstens Dänemark und Finnland zugestimmt, die wie wir eine Mark hatten. "Franken" hätte ich gerne gehabt und hoffte, dass dieser Name auch für Frankreich annehmbar ist.

Aber?

Der Ministerpräsident von Spanien, Felipe Gonzales, sagte: "Das hieße bei uns ‚Franco' und das wollen wir wirklich nicht." Dann kam mir der Gedanke, es gibt Eurocard, Eurocopter und sogar Eurosklerose. Lassen wir die Nachsilbe einfach weg. Dann haben wir ein Wort, das alle in Europa verstehen und das mit Europa unmittelbar verbunden ist. Das war dann mein Vorschlag, der am Anfang allerdings durchaus kritisch begleitet wurde.

"Nicht gerade erotisch": Wie der Euro zu seinem Namen fand

Welche Einwände gab es?

Der französische Präsident Jacques Chirac wollte eine Volksabstimmung über eine Auswahl an Namen ansetzen. Bundeskanzler Helmut Kohl hat ihn daraufhin gefragt: "Was machst Du denn, wenn ,Mark' die meisten Stimmen bekommt?" Und mein bester Freund Jean-Claude Juncker, damals Premierminister Luxemburgs und später Präsident der EU-Kommission, wandte ein, "Euro" klinge "nicht gerade erotisch". "Jean-Claude", habe ich gesagt, "Hauptsache, es klingt eurotisch." Im Dezember 1995 in Madrid haben dann alle Länder dem Namen "Euro" zugestimmt.

Heute sind allerdings viele der Ansicht, durch den Euro sei alles teurer geworden, Stichwort "Teuro". Was sagen Sie dazu?

Ich rate zu einem Blick auf die Zahlen. Es gibt Berechnungen des Statistischen Bundesamtes, der Deutschen Bundesbank, der Universität Eichstätt, der Europäischen Zentralbank und verschiedener unabhängiger Institute, die ganz genau nachgerechnet haben, dass die Inflation nach der Einführung des Euro nicht über zwei Prozent hinausgegangen ist. Das war eine gefühlte Inflation. Es gab den einen oder anderen Bereich in der Gastronomie oder bei Dienstleistungen, wo stärkere Ausschläge stattgefunden haben, die wieder zurückgegangen sind. Auf der anderen Seite haben im Telefon- und vielen anderen Bereichen Verbilligungen stattgefunden. Die Geschichte vom "Teuro" ist eine erfundene Story von Gegnern der gemeinsamen Währung.

Lassen Sie uns in die Zukunft schauen: Was ist Ihrer Meinung nach die größte Herausforderung, vor der die EU jetzt steht?

Sie muss 70 Jahre nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft wieder zu etwas Vergleichbarem kommen. Das braucht keine gemeinsame Armee zu sein, aber wenigsten eine Kooperation bei Rüstungsvorhaben. Ein Einzelner wie der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán darf wichtige Beschlüsse nicht verhindern. 70 Jahre, nachdem die EVG in der französischen Nationalversammlung gescheitert ist, müsste sie jetzt wiederbelebt werden. Denn es waren 70 verlorene Jahre.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Waigel.

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