Srebrenica: 20 Jahre nach dem Völkermmord

Vor 20 Jahren schockte das Massaker von Srebrenica die ganze Welt – heute ist Bosnien und Herzegowina ein Staat, der nicht funktioniert
Volker Isfort |
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Rund 8000 muslimische Bosnier wurden bei Srebrenica getötet, noch immer sind nicht alle Opfer identifiziert.
dpa Rund 8000 muslimische Bosnier wurden bei Srebrenica getötet, noch immer sind nicht alle Opfer identifiziert.

Anfang der 90er Jahre zerfiel der Vielvölkerstaat Jugoslawien, Bosnien und Herzegowina erklärte sich 1992 unabhängig – gegen den Willen Belgrads und der serbischen Kräfte im Land. So begann der Bosnienkrieg, der rund 100 000 Tote forderte. Im Westen erinnert man sich vor allem an die mehrjährige Belagerung Sarajevos und den Völkermord in Srebrenica im Juli 1995, als die bosnisch-serbische Armee muslimische Flüchtlinge in einer UN-Schutzzone tötete. Ein Gespräch mit Marie-Janine Calic, Professorin  für Ost- und Südosteuropäische Geschichte an der LMU München.

Frau Calic, welche Bedeutung hatte Srebrenica für den Bosnienkrieg?

Srebrenica war der Weckruf für die internationale Staatengemeinschaft. Man wusste von furchtbaren Massenverbrechen im ehemaligen Jugoslawien, aber diese Ausmaße hatte niemand für möglich gehalten. Srebrenica ist der erste juristisch anerkannte Völkermord auf europäischem Boden seit 1945. Das Tribunal in Den Haag hat später besonders diesen einen Fall so deklariert, es gab aber viele andere Massaker im Zuge der sogenannten „ethnischen Säuberungen“. Das furchtbare an Srebrenica ist nicht nur der Mord an 8000 muslimischen Bosniern, sondern die Tatsache, dass er unter den Augen der UN-Friedenstruppen geschah.


Die holländischen Soldaten konnten der Armee der bosnischen Serben keinen Widerstand leisten?
Die Uno war in einem Dilemma, denn sie hatte im Grunde genommen ein nicht ausführbares Mandat. Das Schutzzonenkonzept war meiner Meinung nach von vornherein nicht durchführbar, denn die Peacekeeper hatten nur das Mandat, eine humanitäre Aufgabe zu erfüllen. Es war nie so gedacht, dass sie mit militärischer Gewalt die Schutzzonen verteidigen sollten.


Wie war die Lage für die Soldaten konkret?
Die Blauhelme waren nur leicht bewaffnet und durften diese Waffen nur zur Selbstverteidigung einsetzen. Von den 430 niederländischen Soldaten die dort in Srebrenica saßen, waren überhaupt nur 150 bewaffnet, die anderen waren Beobachtungsposten. Man muss auch sagen, dass die Verantwortung für das Desaster nicht nur bei der Uno liegt, sondern vor allem bei den Mitgliedsländern. Die Uno hat immer wieder verzweifelt mehr Peacekeeper gefordert, diese aber nicht bekommen. Für die Umsetzung des Schutzzonenkonzeptes hätte man 34 000 Soldaten benötigt – bekommen hat man nur 7500.


Die Dimension von Srebrenica ist damals nicht direkt im vollen Umfang erkannt worden.
Das ist ein anderes Versäumnis, denn die UN-Truppen waren ja vor Ort. Die Blauhelme haben sich tragischerweise noch daran beteiligt, gefangen genommene Männer in Busse zu verfrachten, weil sie dachten, die kämen in ein Gefangenenlager und würden dort versorgt. Niemand ist der Frage nachgegangen, was mit den Männern eigentlich passiert. Es hat Tage gedauert, bis die ersten Meldungen über die Massenerschießung überhaupt bis zur Uno durchgedrungen sind.


Dann aber ging es sehr schnell, unter der Führung der Amerikaner wurden die serbischen Streitkräfte bombardiert und die Kriegsparteien in Dayton an den Verhandlungstisch gezwungen. Dort wurde der Frieden verhandelt.
Das lag aber nicht nur an der massiven Bombardierung. Es gab seit längerem eine militärische Pattsituation zwischen der kroatisch-muslimischen Konföderation und den bosnischen Serben. Die Amerikaner haben mit den Luftangriffen die Entscheidungsfindung auf serbischer Seite zusätzlich beschleunigt. Und dann wurde mit dem Dayton-Abkommen ein Vorschlag gemacht, der versucht, das Unmögliche möglich zu machen und völlig konträre Interessen unter einen Hut zu bringen. So haben die Serben ihr Kriegsziel bekommen: einen eigenen Staat in Form der Republika Srpska mit weitreichenden Befugnissen. Die bosnischen Muslime haben auch ihr Kriegsziel verwirklicht, zumindest auf dem Papier: Bosnien bleibt als Staat erhalten. Und die Kroaten durften sich innerhalb bestimmter Kantone der Föderation selbst verwalten.

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Das klingt nach einem Erfolg für alle Parteien.
Natürlich waren alle wahnsinnig froh, dass der Krieg beendet war. Aber der Dayton-Vertrag konnte sich in der Praxis nicht bewähren. Er ist zu kompliziert und widersprüchlich und hat die Konflikte, so wie sie schon 1992 existierten, im Grunde genommen eingefroren.


Hat der Westen Bosnien seit Dayton im Stich gelassen?
Nein, es ist sehr viel geschehen. Man darf auf gar keinen Fall gering schätzen, mit welchem Milliardenaufwand der Wiederaufbau des Landes vorangetrieben wurde. Man kann sich in Bosnien frei bewegen, es wird nicht mehr gekämpft, es gibt ein Mindestmaß an Normalität in diesem Land. Nicht gelungen ist es aber, die Blockade zwischen den maßgeblichen politischen Kräften und innerhalb der Institutionen aufzulösen. In Bosnien haben international überwachte Wahlen stattgefunden, aber immer dazu geführt, dass nationalistische Parteien gewählt wurden, also jene Kräfte, die den Krieg auch begonnen und geführt haben. Die strukturellen Defizite des Dayton-Abkommen konnten so nie überwunden werden. Die Verfassung widerspricht auch europäischen Werten, weil sie beispielsweise Minderheiten wie Roma und Juden von höchsten Staatsämtern ausschließt.


Diese Minderheiten haben aber dagegen geklagt.
Ja, die Klage vor dem Europäischen Gerichtshof wurde zugunsten der Kläger entschieden. Die Europäische Union hat die Überarbeitung der Verfassung zur Kondition für die EU-Annäherung gemacht, aber es hat sich einfach nichts getan. Der Staat ist dysfunktional, und kein Mensch weiß, wie die politischen Interessen so verändert werden könnten, dass wichtige Reformen möglich werden. Bosnien hat eine EU-Perspektive, die müsste das Land allerdings auch wahrnehmen. Und derzeit werden nicht einmal die mindesten Bedingungen hierfür erfüllt.


Gibt es denn Menschen, die sich jenseits von Ethnie und Religion als Bosnier fühlen?
Wer so fühlt, hat das Land längst verlassen. Der Krieg und auch die Dayton-Verfassung haben die Menschen praktisch gezwungen, sich ethnisch zu definieren. Wenn man nicht Serbe, Kroate oder Bosniake ist, kann man in diesem Staat nichts werden. Das Traurige ist, dass schon die Kinder erzogen werden, in ethnischen Trennungen zu denken. Es gibt in Bosnien auf dem Gebiet der Föderation Schulen, da gehen kroatische und bosniakische Kinder in dasselbe Gebäude und dann lernen sie in getrennten Klassen und mit getrennten Lehrplänen unterschiedliche Wahrheiten über die Geschichte ihres Landes. Das zeigt auch, dass Versöhnung, Verständnis und einheitliche Staatsidentität von den politischen Eliten nicht gewollt sind.


Wie hat sich denn die Wirtschaft in Bosnien entwickelt?
Die Wirtschaft ist in einem desolaten Zustand. Das ist zum Teil Erbe der Vorkriegszeit. Bosnien hat von Bergbau und Rohstoffförderung gelebt, auch von Landwirtschaft und die anderen jugoslawischen Republiken beliefert. Dieser Markt ist weg. Und die Industrieanlagen, die den Krieg überlebt haben, sind nicht international konkurrenzfähig. Es gibt keine Entwicklungsstrategie, um die exorbitante Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Das ist auch ein Versäumnis der internationalen Finanzorganisationen, die alle nur von einem Tag auf den anderen denken und nicht strategisch für die Zukunft. Bosnien ist völlig abhängig von Geberzuwendungen, sei es durch Transferleistungen und Hilfen, oder durch die hohen Gehälter der vielen internationalen Organisationen, die im Land sind.


Was tut speziell Deutschland für Bosniens Zukunft?
Es hat gerade im letzten Jahr wieder einen Versuch der Deutschen gegeben, einen anderen politischen Ansatz für Bosnien zu finden. Aber diese neuen Ansätze bewegen sich immer im gedanklichen Rahmen von Dayton. Und daran wird nicht gerüttelt. Die Verbesserungsvorschläge sind daher eher kosmetischer Natur.


Was wäre denn Ihre utopische Lösung?
Man braucht eine reale politische Lösung. Ich denke, man müsste sowohl der Republika Srpska als auch der Föderation mehr Freiräume geben und sich von der Idee verabschieden, dass dieser Staat mit einer gemeinsamen Regierung ohne internationale Interventionen funktionieren wird, was er ja ohnehin nicht tut. Was hier kaum Beachtung findet, ist, dass auch die Außenpolitik Bosniens völlig auseinander fällt. In der Ukrainefrage steht die Republika Srpska zu Russland, die Kroaten stehen zur EU und die Bosniaken liebäugeln mit türkischer Unterstützung.


Besteht nicht die Gefahr, dass ein staatlicher Auflösungsgedanke für Bosnien direkte Folgen für den Kosovo und Mazedonien haben könnte?
Bosnien könnte zu einer Konföderation werden, wobei man ausschließen müsste, dass sich Serbien und die Republika Srpska vereinigen, so wie man ausgeschlossen hat, dass sich Kosovo und Albanien vereinigen dürfen. Im Rahmen der europäischen Konditionalität gibt es die Möglichkeit, so etwas zu verhindern. Die politische Elite müsste endlich mehr Eigenverantwortung übernehmen. Es ist in Bosnien inzwischen üblich, die Schuld für Missstände immer nur den anderen oder der internationalen Gemeinschaft zuzuweisen.


Es sind aus Albanien, Kosovo und Bosnien junge Menschen in den Krieg für den IS gezogen, befürchten Sie einen stärkeren Einfluss der islamistischen Kräfte in der Region?
Da liegt ein gewisses Problem, aber nicht das größte. Extreme religiöse Ausdrucksformen haben auf dem Balkan in der jüngeren Geschichte keine Rolle gespielt. Nur angesichts schwacher Institutionen und Rechtsstaatlichkeit kann der IS dort aktiv werden.     
 


Marie-Janine Calic spricht am Montag, 15. Juni um  18.15 Uhr, im Gasteig (Vortragssaal der Bibliothek) über Bosnien, den Krieg und die Zukunftsperspektiven

 

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