Spitzenkandidatur in Berlin: Künast zieht in den Kampf

Die schnoddrige, schnellzüngige Grüne verkündet ihre Spitzenkandidatur in Berlin – ein Novum für die Gesellschaft, ein weiter Weg für sie: Arbeiterkind, Sozialarbeiterin, Kifferin, Macherin.
von  Abendzeitung
Sie will die Macht in Berlin: Renate Künast will beweisen, dass Grüne ganze Bundesländer regieren können.
Sie will die Macht in Berlin: Renate Künast will beweisen, dass Grüne ganze Bundesländer regieren können. © dpa

Die schnoddrige, schnellzüngige Grüne verkündet ihre Spitzenkandidatur in Berlin – ein Novum für die Gesellschaft, ein weiter Weg für sie: Arbeiterkind, Sozialarbeiterin, Kifferin, Macherin.

BERLIN Sie will es wissen: Sie will die erste grüne Regierungschefin eines Bundeslandes werden. Renate Künast tritt an als Spitzenkandidatin in Berlin. Ein Novum in der Parteiengeschichte. Eine Zäsur für die Grünen, die früher ihre Abgeordneten alle zwei Jahre ausgetauscht haben aus Angst, dass sie zu viel Macht bekommen; aber auch für die Gesellschaft – die einst oft belächelten „Ökospinner“ treten nun an, ein ganzes Bundesland zu managen. Und Renate Künast hat gute Chancen.

Für gestern Abend hatte sie einen Auftritt angekündigt, offen für Basis und Berliner Bürger. Die Veranstaltung hatte bei Redaktionsschluss noch nicht begonnen, aber der Zweck des Ganzen war klar: Renate Künast (54) verkündet ihre Spitzenkandidatur.

Damit kommt es zu einem der spannendsten Wahl-Duelle seit langem – ihr Hauptkonkurrent ist Klaus Wowereit, alle anderen sind weit abgeschlagen: SPD-Mann gegen grüne Frau. Partylöwe und Schmusebär gegen das schnellzüngige, schnoddrige Energiebündel, das mal „der Duracell-Hase der Grünen“ genannt wurde. Sie hat viel Feuer, aber verströmt selten Wärme. Sie geht schnell auf Angriff, analysiert scharf und lässt sich den Schneid nie abkaufen – das hat die Öffentlichkeit schön verfolgen können, als sie das Agrarministerium von der Landwirtschafts-Lobby zum Verbraucher-Anwalt radikal umbaute, ohne dass dem Bauernverband nennenswerter Widerstand gelang.

Gegner versuchen manchmal, sie in die abgehobene Cafe-Latte-Yoga-Dinkelpuffer-Ecke zu stecken – aber da sagt sie nur „Recklinghausen“. Da ist sie her, aus kleinen Verhältnissen, eines der vier Kinder eines Kfz-Schlossers und einer Hilfskrankenschwester. Der Vater will sie trotz der Gymnasialempfehlung auf die Hauptschule schicken („du heiratest sowieso“), die Lehrerin setzt durch, dass Renate auf die Realschule darf. Die von der Mutter gewünschte Banklehre verweigert sie, schon wegen des Dresscodes. Stattdessen holt sie das Abitur nach, arbeitet als Sozialarbeiterin im Gefängnis, studiert Jura, wird Anwältin. Rauen Umgangston ist sie gewohnt, aus dem Knast wie von daheim – die Eltern nannten sie manchmal „dummes Gör“.

Mit Anfang 20 geht sie nach Berlin. Sie kifft viel damals, wohnt in WGs, die zu ihrer Familie werden, steht politisch weit links. Seither hat sie sich geändert; kein Bruch sei das, sondern eine Entwicklung, sagt sie. Sie gehört längst zum Realo-Flügel, der Machbares gestalten will, statt träumen; sie ist eine der wenigen bei den Grünen, die klar sagt, dass man von Migranten auch etwas fordern muss. Die Wirtschaft in Berlin hätte keinerlei Berührungsängste mit ihr als Regierungschefin: Besser als jetzt Rot-Rot sei sie allemal, sagt ein Industrieller. Und IHK-Chef Eric Schweitzer: „Ich schätze sie als faire, verlässliche Gesprächspartnerin.“

Jetzt muss sie allerdings noch die Wahl gewinnen: Derzeit liegen die Grünen mit 29 zu 27 knapp vor der SPD. Mit Kinderköpfe-Tätscheln und volksnahem Wahlkampf tut sich Wowereit leichter, aber vielleicht schätzen gerade die Berliner ihre manchmal ruppige, aber ehrliche Art.

Und dann muss sie noch einen Regierungspartner finden: Die Berliner SPD hat – anders als die Baden-Württemberger Genossen, die vielleicht noch früher vor der Frage stehen werden, Juniorpartner der Grünen zu sein – Probleme mit Grün-Rot. Die CDU hat sich Künast bereits angedient, ist aber vermutlich zu schwach, als dass es für Grün-Schwarz reicht. Grün-Schwarz – wer hätte vor ein paar Jahren gedacht, dass das mal eine Option ist. tan

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