Sozialverband kritisiert Lindner scharf: "Ist nicht sein Geld, sondern das Geld aller Bürger"

Verena Bentele (42) ist seit 2018 die Präsidentin des größten deutschen Sozialverbands (VdK). Zuvor war sie als Behindertenbeauftragte der Bundesregierung tätig und gewann als Biathletin und Skilangläuferin viermal den Weltmeistertitel und zwölfmal die Paralympics.
AZ: Frau Bentele, was ist für Sie der Inbegriff von Demokratie?
VERENA BENTELE: Für mich heißt das, dass wir allen Menschen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und Chancengleichheit ermöglichen. Zum Beispiel durch eine breite Teilhabe an Bildung. Für arme Menschen, für Menschen mit Behinderung, für Menschen, die neu hierherkommen.
Demokratie ist für Sie also fest verbunden mit dem Sozialstaat?
Ja. Der Sozialstaat gehört für mich zum Wesen der Demokratie, das es zu verteidigen gilt. Die Gesellschaft zu gestalten, sollte nicht einigen Wenigen vorbehalten sein. Wir müssen durch Förderprogramme und sozialstaatliche Prinzipien dafür sorgen, dass alle an ihr teilhaben.

Wie kann mehr demokratische Teilhabe aussehen?
Im Bundestag haben wir die erste Abgeordnete mit einer Hörbehinderung. Seit sie da ist, verbessert sich die barrierefreie Kommunikation rasant. Das zeigt doch nur eins: Es ist möglich, wenn man denn will.
VdK-Präsidentin Verena Bentele kritisiert "ein menschenfeindliches Bild von Arbeitslosen"
Sie sagen, die Demokratie muss verteidigt werden. Wie?
Indem wir Regeln für einen respektvollen Umgang miteinander als etwas Positives zeigen. Im medialen Diskurs finde ich es problematisch, dass gerade politische Auseinandersetzungen eine Tendenz dazu haben, sehr schnell sehr unsachlich zu werden. Dazu tragen nicht nur populistische Parteien bei, sondern auch etablierte. Ich finde es zum Beispiel sehr bedenklich, welche Zahlen in der Bürgergelddiskussion in Umlauf gebracht werden, die nachweislich nicht stimmen und ein menschenfeindliches Bild von Arbeitslosen zeichnen.
Gerade Arbeitslose und andere sozial Benachteiligte werden oft zur Zielscheibe in politischen Diskussionen. Wie können sie sich in einer Demokratie dagegen am besten wehren?
Indem sie wählen, sich äußern, an Demonstrationen teilnehmen und solche Angriffe nicht so stehenlassen. Doch diese Menschen sind oft nicht gut miteinander vernetzt, haben nicht die besten Kontakte und können sich nicht so schnell organisieren. Andere, die nicht sozial benachteiligt sind, treten oft viel geschlossener auf.
Müssen mehr Menschen für jene eintreten, die sich nicht so leicht organisieren können?
Ja. Das ist eine Sache, warum es uns als Sozialverband VdK gibt. Wir helfen Menschen durch juristische Beratungen zu ihrem Recht und erheben die Stimme für sie. Aber auch die Regierung, Parteien und Abgeordnete sollten sich täglich darum bemühen, jenen zuzuhören, die sich sonst nur schwer Gehör verschaffen können.
Denkzettel für Christian Lindner: "Es ist nicht sein Geld, sondern das Geld aller Bürger im Land"
Sie sind Befürworterin des Demokratiefördergesetzes, das Organisationen stärken soll, die sich für die Demokratie einsetzen. Kann das dabei helfen?
Ich finde schon, weil es darauf aufmerksam macht, dass wir unser Leben in einer Demokratie selbst in die Hand nehmen können und müssen und nicht nur dem Staat oder Unternehmen ausgeliefert sind. Gerade die Stärkung von Bildung kann dazu beitragen, dass wir das mehr erkennen. Wenn wir zum Beispiel hören, dass Finanzminister Christian Lindner nicht dieses oder jenes Geld bereitstellt, sollten wir uns daran erinnern: Es ist nicht sein Geld, sondern das Geld aller Bürgerinnen und Bürger im Land. Wir haben ein Anrecht auf Mitbestimmung und einen starken Sozialstaat.

Bräuchte es demzufolge mehr direkte Demokratie, um diese sozialer zu machen?
Bei politischen Entscheidungen, welche die Menschen sehr direkt betreffen, sollte als handlungsleitendes Prinzip mehr auf die Mehrheit geachtet werden. In Deutschland gibt es etwa schon lange eine Mehrheit für eine Krankenversicherung für alle.
Keine Benachteiligungen wegen einer Behinderung: "Ich halte das für einen ganz wichtigen Satz"
Dieses Jahr ist das dreißigjährige Jubiläum für den Zusatz "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" im dritten Absatz von Artikel 3 des Grundgesetzes. Der VdK hat damals dafür gesorgt, dass er in die Verfassung aufgenommen wird. Sehen Sie diesen Satz in der Realität verwirklicht?
Ich halte das für einen ganz wichtigen Satz, weil er Benachteiligung von allen Menschen mit Behinderung prinzipiell verbietet. Aber wir erleben, dass er oft keine Anwendung findet. Nehmen wir zum Beispiel die Privatwirtschaft: Wenn ich als nichtsehende Person Haushaltsgeräte kaufen möchte, habe ich oft das Problem, dass diese nur einen Touchscreen haben. Obwohl es heute schon technische Alternativen gäbe wie etwa Sprachausgaben.
Entsprechende Anbieter würden womöglich argumentieren, dass sie als Unternehmen zu sehr dadurch eingeschränkt würden.
Mit dem Zusatz im Grundgesetz dürfte die Barrierefreiheit eigentlich keine Diskussion sein. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Da steht nicht, man darf in manchen Fällen benachteiligt werden oder wenn's zu viel Geld kostet.
Wenn es um solche Vorschriften geht, steht auch immer die Sorge vor bürokratischer Überregulierung im Raum. Ist sie berechtigt?
Nein. Ich denke, dass Rahmenbedingungen immer dann sein müssen, wenn es das System von allein nicht regelt. Ein anderes Beispiel dafür wäre die Quote für Frauen in Führungspositionen oder die Verpflichtung zu gleichen Gehältern in gleichwertigen Jobs. Regeln wir so etwas nicht gesetzlich, läuft das immer auf das Recht des Stärkeren, des Reicheren, des Gebildeteren hinaus. Und das ist nicht das, was man in einer Demokratie, die für gleichwertige Lebensbedingungen steht, forcieren sollte.