Sozial, liberal, egal?

Vor dem Wahlsonntag: Ist ein Fünf-Parteien-System besser als zwei Volksparteien? Die AZ-Redakteure Markus Jox und Tina Angerer über das Ende des Lagerdenkens.
von  Abendzeitung

Vor dem Wahlsonntag: Ist ein Fünf-Parteien-System besser als zwei Volksparteien? Die AZ-Redakteure Markus Jox und Tina Angerer über das Ende des Lagerdenkens.

Ach, wie spannend könnte der 27.September doch sein! Die Wähler werden die „Volksparteien“ weiter abstrafen, und gleich drei „kleine“ Parteien rechnen mit einem zweistelligen Wahlergebnis. Das wäre die Chance für die Parteien, endlich neue, intellektuell spannende Bündnisse jenseits der alten Lager zu schmieden. Überkommene Vorurteile über Bord zu werfen. Und den Bürgern wieder mehr Lust auf die Demokratie zu machen nach dem Motto: Es lebe die bunte Republik Deutschland!

Stattdessen betreiben die Parteien verzagte Ausschließeritis. Und inszenieren ein Lagerdenken, das längst überkommen ist: Konservative gegen Linke, Kapital gegen Arbeit, Schwarz gegen Rot, Gut gegen Böse – das war einmal. Früher, zu Zeiten Helmut Kohls, als Demonstranten den Kanzler mit „Hau-ab“-Rufen empfingen und der sie als „linkes Gesocks“ beschimpfte. Heute steigen die Parteien nur noch aus Angst vor dem Wähler in die alten Schützengräben. Union und FDP feiern sich als Gralshüter eines „bürgerlichen Lagers“, obwohl sie genau wissen, dass auch die Grünen-Klientel längst nicht mehr zottelbärtig und im Parka, sondern gerne im Dreiteiler daherkommt. Die Ökopartei verspielt mit ihrem Gerede vom „Steigbügelhalter“, den sie nicht für das ach so böse Schwarz-Gelb sein wolle, leichtfertig jede Chance, ihre Ideen in Politik umzusetzen. Und die SPD drückt sich davor, sich jetzt schon offen zu dem zu bekennen, was sie spätestens 2013 sowieso machen will: Rot-Rot-Grün. Stattdessen lässt sie sich von den Links-Populisten die Rolle der Partei der sozialen Gerechtigkeit abluchsen.

Es soll hier nicht der Beliebigkeit das Wort geredet werden. Sondern einem neuen Projekt, wie es Kohls „geistig-moralische Wende“ oder Schröders rot-grüner Ruf nach „Innovation und Gerechtigkeit“ war. Wie spannend wäre es zu sehen, ob Jamaika die Kraft für eine Wurzelbehandlung des Steuersystems hätte. Ob Schwarz-Grün wie in Hamburg ganz verliebt ins Gestalten wäre. Ob eine Ampel Ernst machen würde mit dem Stärken der Bürgerrechte. Oder ob ein Linksbündnis in Zeiten desolater Haushalte wirklich den Hartz-IV-Satz erhöhen würde.

Nichts davon dürfte Realität werden. Stattdessen bekommen wir wieder eine müde große Koalition oder Schwarz-Gelb, das jede Vision jenseits illusorischer Steuersenkungen vermissen lässt. Wie schade.

Markus Jox

Wissen Sie schon, wen Sie wählen? Machen Sie doch mal den Wahlomaten-Test. Der nicht repräsentative Test ergab: Einmal ist man schwarz-rot-grün. Nur zwei von 38 Antworten kippen das Ergebnis (zum Beispiel: Sollten Eltern, die für ihre Kinder keinen Krippenplatz in Anspruch nehmen, ein Betreuungsgeld erhalten? Und: Sollten Studenten unabhängig vom Einkommen der Eltern ein Bafög bekommen?), dann ist man rot-grün-gelb.

Die Parteien nähern sich immer mehr an, vorbei die Zeiten, wo es Linke und Konservative gab. Gut, könnte man sagen, Ideologie ist ohnehin der falsche Weg, lasst uns Politik machen statt Sprüche.

So ist es aber leider nicht. Im Fünf-Parteien-System mit zwei schwachen Volksparteien ist es das Ziel, überhaupt eine Regierung bilden zu können. Früher wusste, wer rot oder grün wählt, wählt Kohl ab. Heute ist alles möglich. Wer grün wählt, macht vielleicht Westerwelle zum Außenminister. Wer SPD wählt, wählt Merkel oder Westerwelle oder er ebnet den Weg für Rot-Rot-Grün. Die Hintertüren sind offen, absichtlich.

Zu den ohnehin abflachenden Parteienprofilen kam die Krise, die die Stimmung im Land verstärkt: Ein unsicheres Lauern, was die Zeiten noch mit uns machen. Die größten Punkte, ergab eine Studie zum TV-Duell, sammelten Merkel und Steinmeier mit der Geißelung von Millionen-Abfindungen. „Sechs Monate Arbeit und fünf Jahre Gehalt, das halte ich für unanständig“, sagte ... wer? Suchen Sie sich’s aus.

Anderes Wahlkampf-Beispiel: Steinbrück fordert eine Finanzmarktsteuer, die Linke schreit, dafür hätte die SPD jahrelang nichts getan, Merkel sagt, ja, das loten wir international aus, und die Grünen jammern, man hätte von ihnen abgeschrieben. Und Westerwelle? Der liebt neuerdings auch soziale Gerechtigkeit und Hartz-IV-Empfänger. Horst Schlämmer ist mehr real als Satire, wenn er antritt mit: „Liberal, konservativ, links“.

Auch das wäre ok, wenn es denn einen überparteilichen Konsens gäbe, was nun zu tun ist. Der Konsens aber, durch den alles möglich ist, ist nur: Beschwichtigung und keine Wahrheiten vertreten, die abschrecken. So wie die große Koalition, die die größtmöglichen Chancen hatte, es vorgemacht hat: Politik der ruhigen Kugel, Rentengarantie statt Agenda. Kein Wunder, dass immer mehr das Gefühl haben, es sei egal, wen sie wählen.

Tina Angerer

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