Sondierungsgespräche zwischen Union, FDP und Grünen: Soziales rückt in den Mittelpunkt

München - Auf dem Weg nach Jamaika ist zwischen den wahrscheinlichen Koalitionspartnern Union, FDP und Grünen ein Wettkampf ums Soziale entbrannt. Im Wahlkampf waren Armut, sichere Renten und gute Jobs nicht die Hauptthemen der CDU. Vor den heute startenden Sondierungen mit Liberalen und Grünen kündigt Kanzlerin Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nun Sozial- und Gesellschaftspolitik als wichtigstes Feld im Ringen um einen Koalitionsvertrag an.
Die Verluste im Bund und bei der Landtagswahl in Niedersachsen im Kreuz proklamiert Merkel nun als Topthemen der CDU für Jamaika: Nachhaltige soziale Sicherung, Wirtschaft und Arbeit, gleiche Lebensverhältnisse in ganz Deutschland und den Zusammenhalt der Gesellschaft "unter dem Blickpunkt der Familien". Erst dann kommt Innere Sicherheit. "Es bleiben andere Themen wie Integration und Fachkräftezuwanderung", fügt sie hinzu.
Das sind die Probleme: 15,7 Prozent der Bürger sind von Armut bedroht. Das Rentenniveau, das Verhältnis von Einkommen zur Rente, dürfte bis 2045 von 47,8 Prozent auf 41,6 Prozent sinken. Zigtausende Pflegekräfte fehlen. Die Mieten in den Städten explodieren. Die Zahl der Menschen, die mehrere Jobs haben oder schlicht zum Leben brauchen, nahm binnen zehn Jahren um eine Million auf 3,2 Millionen zu.
Vom einflussreichen CDU-Sozialflügel kommt angesichts dessen Druck. "Es geht jetzt um eine Politik, die den Bürgerinnen und Bürgern das Gefühl gibt, mit ihren Anliegen und Sorgen verstanden zu werden", sagt der Chef der Arbeitnehmergruppe der Unionsfraktion, Peter Weiß (CDU). "Es muss greifbar werden, dass sich Dinge konkret verbessern."
Von abstrakten Profildebatten um eine konservative Neuausrichtung der Union hält Weiß nichts. "Davon hat keiner, von denen, um die es uns gehen sollte, wirklich etwas." Das ist auch eine Breitseite gegen Horst Seehofer. Angesichts des AfD-Erfolgs will der CSU-Chef die rechte Flanke schließen. Zugleich will er soziale Themen angehen – wie Rente, Pflege, Miete.
Doch auf was können sich die Jamaika-Partner da einstellen? "Was Herr Seehofer beim Sozialen will, weiß niemand", sagt FDP-Präsidiumsmitglied Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Sie traut dem sozialen Frieden zwischen den Bündnispartnern in spe nicht.
Doch die FDP macht es Union und Grünen beim Sozialen selbst nicht leicht. Einerseits will sie Sozialkosten deckeln. Andererseits will sie "neu denken". Ihr schmeckt nicht, dass CDU/CSU für mögliche künftige Rentenreformen erstmal eine Kommission einsetzen wollen. "Es ist naiv, 2017 zu sagen, bis 2030 ist alles gut", sagt Strack-Zimmermann. "Die Probleme sind bekannt."
Das Rentenniveau zu stabilisieren, wie es die Grünen fordern, kostet Milliarden. Auch ihre steuerfinanzierte Garantierente könnte in Koalitionsverhandlungen als zu teuer bewertet werden. Die FDP will ein flexibles Rentenalter. Möglicherweise kommt man sich am Ende nahe, indem die von der Großen Koalition eingeführte Flexi-Rente ausgebaut wird.
Die Grünen wollen dafür stehen, etwas zu tun für die, die abgehängt sind, die in Armut leben. "Das muss in Sondierungsgesprächen eine zentrale Rolle spielen", sagt Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt. Wenn die Grünen mitregieren, wollten sie nicht in vier Jahren noch sagen müssen: "2,5 Millionen Kinder leben in Armut und alleinerziehend zu sein, ist ein Armutsrisiko."
Die FDP sieht ein Einwanderungsgesetz als Mittel der Wahl – auch für Fachkräfte im Sozialen. Und darüber hinaus für eine Stärkung der Beitragseinnahmen der Sozialkassen durch neue Arbeitskräfte.
Auch Konzernchefs mischen sich ein
Strack-Zimmermann deutet zudem an, dass sie sich eine paritätische Finanzierung der Gesundheitskosten von Arbeitgebern und Arbeitnehmern vorstellen könne. "Dass sich die Arbeitgeber an den Kosten für die medizinische Versorgung beteiligen, ist richtig, auch an den wachsenden Kosten."
Auch Konzernchefs mischen sich in die Sozialdebatte ein. Vor dem Start der Jamaika-Gespräche fordern sie eine bessere soziale Absicherung der Deutschen. Nachdem Siemens-Chef Joe Kaeser kürzlich bereits eine "Grundversorgung für das Alter" gefordert hatte, äußert sich Telekom-Chef Timotheus Höttges jetzt ähnlich. Es müsse über Instrumente wie "das bedingungslose Grundeinkommen und als Teilvariante davon die Grundversorgung im Alter" gesprochen werden, sagt er dem Tagesspiegel.
Auch Götz Werner, Gründer der Drogeriekette dm, wirbt für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Jeder habe das Recht auf ein bescheidenes, aber menschenwürdiges Leben. "Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde diesen Artikel unserer Verfassung endlich Gültigkeit verleihen." Zum Thema Rente meint er: "Es kann nicht sein, dass eine Rentnerin, die drei Kinder groß gezogen hat und dann den Ehemann gepflegt hat, bis er starb, heute nicht von ihrer Rente leben kann. Altersarmut ist grober Undank."