Solidarpakt West?

Vom Helfer zum Sorgenkind: Die Städte im Ruhrpott verschulden sich, um den Solibeitrag Ost zu leisten. Wie die Lage im Westen Deutschlands ist und was die verantwortlichen Kämmerer sagen
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Die Oberbürgermeister verschuldeter Städte im Ruhrgebiet wollen den Solidarpakt für den Aufbau Ost kündigen. Im Bild: Ein geschlossener Laden in Duisburg.
Patrick Sinkel, dapd Die Oberbürgermeister verschuldeter Städte im Ruhrgebiet wollen den Solidarpakt für den Aufbau Ost kündigen. Im Bild: Ein geschlossener Laden in Duisburg.

MÜNCHEN Angestoßen hat die Debatte Bundespräsident Joachim Gauck. In einem ARD-Interview sagte er, er habe in Nordrhein-Westfalen „Zustände gesehen, die ich aus Ostdeutschland nicht mehr kenne im öffentlichen Raum“. Er forderte eine Neuregelung des Solidarpaktes zugunsten westlicher Gemeinden.

So sehen das auch einige Oberbürgermeister von verschuldeten Städten im Ruhrgebiet. Sie haben genug davon, dem Osten auf Kosten der eigenen wirtschaftlichen Gesundheit zu helfen. Jetzt forderten mehrere Stadtväter ein Ende des Solidarpaktes Ost. Geregelt durch den Solidarpakt II bekommt Ost-Deutschland von 2005 bis 2019 mehr als 156 Milliarden Euro an Finanzhilfen. Damit soll nach Meinung einiger Oberbürgermeister Schluss sein.

Besonders Dortmunds OB Ullrich Sierau äußerte sich in der „Süddeutschen Zeitung“ mehr als kritisch: „Der Solidarpakt Ost ist ein perverses System, das keinerlei inhaltliche Rechtfertigung mehr hat.“ Aus Essen und Oberhausen der gleiche Tenor: Solidaritätszahlungen sollten sich nicht nach der Himmelsrichtung, sondern nach Bedürftigkeit richten. Die Kommunen im Ruhrpott verschulden sich, um den Soli-Beitrag zu leisten.

„Die Kommunen im Ruhrgebiet verdienen auch Solidarität“, sagt der Essener Stadtkämmerer Lars Martin Klieve zur AZ. Klieve möchte aber nicht von einer Entsolidarisierung sprechen: „Es geht nicht darum, eine notleidende Region durch eine andere zu ersetzen.“ Die Steuerkraft in einigen Teilen des Ostens sei immer noch niedrig, die pauschale Forderung, den Geldhahn Richtung Osten zuzudrehen, sei falsch.

Vielmehr fordert er nach dem Ablauf des Solipaktes II eine lastengerechte Neuregelung. Denn auch Essen hat Geld nötig: Die Stadt hat 2,195 Milliarden Euro Schulden, seit 1991 wurden rund 744 Millionen Euro für die neuen Bundesländer gezahlt, komplett durch Kredite finanziert. Denn egal wie schlecht die Finanzlage in den Städten ist – der Ost-Beitrag muss gezahlt werden.

In NRW haben nur acht von 400 Kommunen einen ausgeglichenen Haushalt. Oberhausen gehört zu den am höchsten verschuldeten Städten in Deutschland. 1,86 Milliarden Euro Miese stehen zu Buche, circa 265 Millionen gingen bisher in den Solidarpakt.

„Die Bevölkerung im Ruhrpott stimmt den Vorstößen der Oberbürgermeister zu“, weiß Apostolos Tsalastras, Stadtkämmerer in Oberhausen. Hier leben rund 211000 Menschen, die Arbeitslosenquote liegt bei 12 Prozent. Seit 25 Jahren hat die Stadt keinen ausgeglichenen Haushalt mehr, das Geld für die neuen Bundesländer muss auch hier durch Kredite finanziert werden. „Die Steuermittel werden vom Bund zugewiesen, das Geld für den Solidarpakt wird ja einfach abgezogen“, so Tsalastras zur AZ. „Die wirtschaftliche Entwicklung stockt, das Musiktheater musste geschlossen werden, ebenso Schwimmbäder und Sportanlagen. Der Sanierungsbedarf kann nur mangelhaft ausgefüllt werden“, beschreibt er die Lage.

Früher flossen Milliarden aus dem Ruhrgebiet in andere Bundesländer – NRW war 47 Jahre lang Nettozahler beim Länderfinanzausgleich. Heute stellt die amtliche Statistik dem Ruhrgebiet ein Armutszeugnis aus: Gelsenkirchen hat mit 14,6 Prozent die höchste Arbeitslosenquote bundesweit. Es folgen Gladbeck, Duisburg und Dortmund. Erst dann kommen Rostock und andere Ost-Städte. In diesen ist die Quote rückläufig, im Ruhrgebiet steigt sie.

Immer mehr Menschen dort sind arm: In Ostdeutschland ist es fast jeder fünfte, in Dortmund fast jeder vierte. In Ostdeutschland leben 24,1 Prozent der Kinder von Hartz IV, im Ruhrgebiet 25,6 Prozent. In Gelsenkirchen sogar 34,4 Prozent. Ulrich Schneider, Chef des Paritätischen Wohlfahrtverbands, sieht die Gefahr sozialer Unruhen. „Wenn dieser Kessel mit fünf Millionen Menschen zu kochen anfängt, dürfte es schwerfallen, ihn wieder abzukühlen.“

 

 

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