Siko-Abschluss: Schulterschluss in München

München - Begrüßt und verabschiedet wurde der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf der Münchner Sicherheitskonferenz mit stehendem Applaus. Zufrieden mit dem überwiegend westlichen Auditorium konnte er dennoch nicht sein.
Vorwürfe von Selensky
In einer selbstbewussten, emotionalen, aber auch anklagenden Rede warf Selenskyj der Nato, der EU und der restlichen Welt vor, sein Land spätestens seit der Annexion der Krim durch Russland in sträflicher Weise "allein gelassen" zu haben. "Hat die Welt die Fehler des 20. Jahrhunderts komplett vergessen?", fragte Selenskyj.

Die Ukraine wünscht sich einen Zeitplan
Geradezu flehentlich bat er um "Sicherheitsgarantien" und um Beitrittsperspektiven zu Nato und EU. Die Ukraine wünsche sich einen konkreten Zeitplan, gerechnet in Jahren. Die unverbindliche Erklärung, die Tür zu Bündnis und Gemeinschaft stehe offen, reiche nicht. Mit der Rolle eines ständigen "Puffers" zwischen Russland und dem Westen wolle sich sein Land nicht abfinden.
"Es ist zu spät, um über eine Reparatur der Sicherheitsarchitektur zu sprechen", die "fast schon zerstört" sei: "Es ist höchste Zeit für eine neue Sicherheitsarchitektur - bevor wir mit Millionen Opfern bezahlen, und ohne dass ein dritter Weltkrieg eintritt." Noch sei eine Trend-Umkehr möglich.
Eine emotionale Rede
Breiten Raum gab der gelernte Schauspieler dem emotionalen Teil seiner Rede. "Wir werden unser wunderbares Land verteidigen." Aber die Ukraine werde nicht auf Provokationen hereinfallen: "Wir müssen ruhig bleiben und sehr vorsichtig sein." Ironisch war es wohl gemeint, als Selenskyj sich für die deutsche Lieferung von 5.000 Helmen als "Beitrag zur europäischen und nationalen Sicherheit" bedankte.
Aber auch mit dem amerikanischen Agieren in der Krise war er nicht ganz glücklich. Die wiederholte Vorhersage eines Kriegsbeginns zu einem konkreten Zeitpunkt mache die Lage in seinem Land nicht einfacher: "Wie kann man in einem Land leben, von dem immer gesagt wird, morgen beginnt der Krieg?"
Siko: ungewöhnlich harmonisch - Kamala Harris mit Geste des Zusammenhalts
Obwohl der Ukrainer seine Enttäuschung und Verbitterung über die Haltung des Westens nicht verbergen wollte, war die Sicherheitskonferenz in diesem Jahr eine ungewöhnlich harmonische Veranstaltung. Nato und EU nutzten das Treffen, um in seit Jahrzehnten ungekannter Weise Gemeinsamkeit und Stärke zu demonstrieren und so vielleicht Russland - dessen Vertreter der Konferenz ferngeblieben waren - doch noch vor militärischen Aktionen gegen die Ukraine abzuhalten.
US-Vizepräsidentin Kamala Harris hatte zwar in der Sache nichts grundlegend Neues zu bieten, ihr Auftritt allein aber wurde schon als Geste des Zusammenhalts verstanden. Tatsächlich würdigte sie dann auch die "unglaubliche Geschlossenheit", mit welcher der Westen der russischen Bedrohung gegenüber steht.
Auch wenn das "in der Vergangenheit einmal in Frage gestellt wurde", gebe es in den USA ein unveränderbares Engagement für die Nato und das Bündnis, sagte Harris unter Anspielung auf die Irritationen in der Trump-Ära. Die USA seien "immer noch offen für die diplomatische Beilegung", sagte die US-Vizepräsidentin, ließ aber erkennen, dass in dieser Hinsicht in Washington kaum noch Hoffnung besteht.
Russische Aggression nach Drehbuch - Hat sich Putin verrechnet?
Die russische "Aggression" folge einem bekannten Drehbuch. Das Handeln des Kreml passe nicht zu seinen Taten. Im Falle eines Angriffs würden postwendend "signifikante und nie dagewesene wirtschaftliche Maßnahmen" ergriffen. Das werde auch diejenigen treffen, die sich mitschuldig machen, so Harris mit Blick auf Weißrussland. Gleichzeitig schloss sie die Entsendung von Truppen in die Ukraine aus.
Russlands Präsident Wladimir Putin könnte sich verrechnet haben, sagte der scheidende Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Wenn seine Drohung das Ziel haben sollte, "weniger Nato" an seinen Grenzen zu haben, dann werde er mehr bekommen. Und wenn Putin die Nato spalten wolle, bekomme er ein stärkeres Bündnis. Zum Beweis dafür versicherte Großbritanniens Premier Boris Johnson die Nato der verstärkten Unterstützung des Königreichs und wies auf den angehobenen Verteidigungshaushalt hin.
Verwirrung um Nordstream 2
Dann sorgte der für Überraschungen bekannte Briten-Premier wieder für etwas Verwirrung. Er sei "dankbar für die Zusage" des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz (SPD) in Sachen Nord Stream 2. Scholz war auf der Konferenz vor seinem britischen Amtskollegen aufgetreten und hatte es geschafft, die Vokabel "Nord Stream 2" wieder nicht in den Mund zu nehmen. Seine Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hatte allerdings am Freitag das umstrittene Gaspipeline-Projekt im Falle eines Militärangriffs Russlands klar auf die Streichliste gesetzt.

Keine Differenzen gab es zwischen Scholz, Baerbock und Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) in der Frage deutscher Rüstungsexporte: In die Ukraine wird nicht geliefert. Diese Linie der deutschen Waffenexportpolitik sei auch von früheren Bundesregierungen eingehalten worden und werde von der deutschen Bevölkerung mehrheitlich unterstützt, sagte Lambrecht.
Olaf Scholz übernahm den besonnenen Part
Bei seinem ersten Auftritt als Bundeskanzler übernahm Scholz auf der Sicherheitskonferenz am Samstag den besonnenen Part und forderte in der "Russland-Krise" (Baerbock) "so viel Diplomatie wie möglich, ohne naiv zu sein". Der Kanzler machte klar: "Der Frieden in Europa kann nur gewahrt werden, wenn die Grenzen akzeptiert werden."
Scholz wandte sich auch gegen die Aufteilung der Welt in Einflusssphären: "Kein Land sollte der Hinterhof eines anderen Landes sein." Da konnten sich auch die Amerikaner angesprochen fühlen.
So lief das Gespräch von Scholz und Putin
Ein wenig berichtete der Kanzler aus seinem Gespräch mit Putin und hinterließ den Eindruck, dass der Kreml-Herrscher nicht ganz fest auf dem Boden der Realität steht. Für Putin spiele sich in der Ostukraine ein Völkermord ab - "lächerlich", so Scholz ganz undiplomatisch.
Der Kreml-Herrscher wisse genau, dass eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine "in nächster Zukunft nicht passieren" werde. "Wir stehen in einem Konflikt in Europa über eine Frage, die gar nicht auf der Tagesordnung steht."
China stellt sich nicht hinter Russland
Für Unbehagen auf der Sicherheitskonferenz sorgte der aktuelle Schulterschluss zwischen Russland und China. Zumindest wenn man den Worten des aus Peking zugeschalteten chinesischen Außenministers Wang Yi glauben wollte, kann Putin bei einer Invasion der Ukraine nicht mit Unterstützung des Reiches der Mitte rechnen. "Die Unabhängigkeit und Souveränität eines jeden Landes sollte geschützt sein", so Yi.
Von der Freiheit der Ukraine, die Zugehörigkeit zu einem Bündnis frei zu bestimmten, scheint man in Peking aber wohl weniger überzeugt. Die Ukraine, formuliert der Außenminister, sollte "Brücke sein und nicht Frontlinie".