Sigmar Gabriels Klartext-Auftritt in München: Weg von deutscher Arroganz
München - Sigmar Gabriel ist kein Freund des verschwurbelten Wortes, das hat er schon in seiner Zeit als Minister, Vizekanzler und SPD-Vorsitzender gezeigt. Seit er die politischen Ämter abgegeben hat und damit auch parteipolitische Zwänge, pflegt der Niedersachse ein noch offeneres Wort.
Beim 50. Bayerischen Wirtschaftsgespräch der vbw – Vereinigung der bayerischen Wirtschaft – am Dienstagabend in München sprach der 63-Jährige als Vorsitzender der Atlantik-Brücke, die sich für die Zusammenarbeit Deutschlands und Europas mit den USA einsetzt.
"Eine dramatische Verschiebung der Gewichte" vom Atlantik in Richtung Indopazifik sei die tatsächliche Zeitenwende, sagte Gabriel. Eine Epoche von 600 Jahren werde damit beendet. Wie damit umzugehen sei, in dieser Ansicht unterscheiden sich Deutschland und die USA.
vbw-Präsident Hatz: "Wir brauchen nicht weniger Geschäfte mit China"
Während vbw-Präsident Wolfram Hatz im Vorfeld bereits bekannte: "Wir brauchen nicht weniger Geschäfte mit China, sondern mehr mit anderen Ländern", schilderte Gabriel die Bestrebungen von US-Präsident Joe Biden, eine Entkopplung von China zu erreichen, unter anderem, um die technologische Führerschaft der USA zu erhalten und eine Reindustrialisierung von US-Regionen wie dem sogenannten "rust belt" im Mittleren Westen zu erreichen.

Die deutsche Kritik an US-Investitionsprogrammen und dem Inflation Reduction Act nannte Gabriel "etwas übertrieben und selbstgerecht". Dass die USA damit etwa zum Vorreiter in Sachen Klimaschutz werden wollten, sei schließlich etwas, was man jahrzehntelang von ihnen verlangt habe. Im Gegenteil spräche viel dafür, dass durch die neuen Gesetze auch die Nachfrage nach klimafreundlichen Produkten in Deutschland und Europa vorangetrieben werde. "Der Kuchen wird einfach größer."
Gabriel: Deutschland muss sich nach anderen Partnern umschauen
Harsche Kritik übte der Sozialdemokrat an der Lage in Deutschland. Ausländische Investitionen seien "zuletzt fast vollständig eingebrochen", etwa wegen des Fachkräftemangels, höherer Energiepreise als in anderen europäischen Ländern und wegen eines höheren Bürokratie- und Planungsaufwands. "Bei europäischen Investitionsoffensiven fließt das meiste Geld an Deutschland vorbei." Demzufolge forderte Gabriel Steuererleichterungen, eine Beschleunigung bei Planung und Genehmigung – "wir können nicht immer sagen: not in my backyard" – und mehr Tempo bei der Digitalisierung.
Deutschland müsse sich zudem nach anderen Partnern umschauen, wie Indien und Indonesien, empfahl Gabriel, und auch vor der eigenen Haustür könnten sich Alternativen finden. "Für uns ist Afrika ein Angstkontinent", für China dagegen sei es ein "Chancenkontinent". Auch die ablehnende Haltung Deutschlands gegenüber Freihandelsabkommen wie TTIP und zunächst auch gegenüber Ceta kritisierte er.
Staaten haben keine Freunde, sondern Interessen
Zur Frage, wie werteorientiert Handelspolitik sein sollte, hat Gabriel eine klare Meinung: "Ich fand den Umgang mit Katar ziemlich arrogant", sagte er in Anspielung auf die massive Kritik an der Menschenrechtslage in dem Land rund um die umstrittene Fußballweltmeisterschaft im vergangenen Herbst. Gleichzeitig wolle man aber Gas von dem arabischen Staat. "Wir können nicht bestimmen, in welchen Schritten sich andere entwickeln."
Außerdem müsse Deutschland sich zu seinen wirtschaftlichen Interessen bekennen, sagte der SPD-Politiker, Churchill zitierend, wonach Staaten keine Freunde, sondern Interessen haben. Der Markt jedenfalls werde abrücken von der Liberalisierung, hin zu mehr Staat.
Der Verein Atlantik-Brücke wurde 1952 gegründet. Unter den Initiatoren finden sich Gegner und Verfolgte der NS-Diktatur, darunter die spätere "Zeit"-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff und der Bankier Eric M. Warburg. Ziel sei, "die Zusammenarbeit zwischen Deutschland, Europa und Amerika auf allen Ebenen zu vertiefen", schreibt der Verein über sich.
Im Juni 2019 wurde Sigmar Gabriel zum Vorsitzenden und damit zum Nachfolger von Friedrich Merz (CDU) gewählt. Im Vorstand des in Berlin ansässigen Vereins sitzen unter anderem Ex-"Bild"-Chef Kai Diekmann, Wolfgang Ischinger, bis 2022 Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, und der Außenpolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Omid Nouripour.