Sigmar Gabriels Buch über Weltpolitik in der AZ-Rezension von Werner Weidenfeld
München - Die Machtarchitektur der Weltpolitik hat dramatische Veränderungen erfahren. Sie verlor ihre alte Kalkulierbarkeit. Die klare Bipolarität ist einer Multipolarität mit neuen Bedrohungsszenarien von Stellvertreterkriegen über Hybridkriegen bis zu Cyberwars gewichen.
Die mediale Resonanz zeigt sich in der fast täglichen Schlagzeile: "Die Welt ist aus den Fugen geraten".
Insofern besteht intensiver Bedarf nach Orientierung im Blick auf die neue Machtarchitektur, die neuen Gefahren, die neuen strategischen Notwendigkeiten. Es kann daher nicht überraschen, dass der Buchmarkt von dieser Thematik bedacht wird. Aber jenseits der Autoren-Üblichkeit trifft ein Buch auf besondere Neugierde. Da hat der ehemalige Außenminister zur Feder gegriffen.
Autoren-Debüt für Gabriel
Bisher ist Sigmar Gabriel nicht als großer Autor in Erscheinung getreten. Und als Minister hat er nicht allzu dramatisch zur Überwindung der strategischen Sprachlosigkeit deutscher Politik beigetragen. Aber jetzt – ohne die alten machtpolitischen Fesselungen und ohne die diversen taktischen Beschwernisse – bietet sich dazu für ihn die günstige Gelegenheit. Wenn ihm ein eindruckvoller Wurf gelingt, dann könnte aus ihm ja der aktuelle Typ eines Henry Kissinger werden in neuer Variante. Auch einer seiner Vorgänger hatte ja diesen Versuch unternommen: Joschka Fischer.
Vor diesem Hintergrund greift man besonders schnell und besonders anspruchsvoll zu Gabriels Buch über die "Zeitenwende in der Weltpolitik". Wenn doch die Welt sichtbar aus den Fugen geraten ist, dann will man wissen, wie diese weltpolitische Architektur wieder in Ordnung zu bringen ist, wie die vielen kriegerischen Konflikte zu regeln sind und welche Strategie die deutsche Außenpolitik operationalisieren wird.
Leichte Lektüre
Das Buch ist leicht lesbar in verständlicher Sprache. Keine intransparente Fachterminologie, keine großen Bandwurmsätze hindern an flotter Lektüre.
Die Themen sind gleichsam wie an einer Perlenkette aufgezogen: Deutschlands Weg, der Krisenmodus des neuen Multilateralismus, die Dialektik westlicher Taten, die Zukunftsbotschaft der USA, Russlands und Chinas – vieles davon ist gleichsam als ein Weckruf für Europa zu verstehen. Der Autor vermittelt rationale Wachheit.
Vor diesem Hintergrund richtet sich der Blick des Lesers gespannt auf das Unterkapitel "Ein Europa mit strategischer Kultur", denn das könnte ein wesentliches Lösungsmuster bieten. Die hohen Erwartungen bleiben leider unerfüllt. Denn das Kapitel nennt zwar einige sensible Sachverhalte wie die Waffenlieferungen an die Türkei und an Ägypten, erschöpft sich aber in der Forderung, dass wir eine strategische Kultur brauchen. Das stimmt – aber wer soll sie wie erarbeiten und wie wird sie dann aussehen?
Antworten werden weiter gesucht
Man richtet dazu hoffnungsvoll den Blick auf das abschließende Kapitel, das die wirkliche Perspektive ankündigt. Dort findet man dann Sätze wie: "Deutschland muss mehr Außenpolitik wagen. Deutschland ist auf eine verstärkte weltpolitische Rolle weder mental noch strukturell vorbereitet. Die neue Rolle erfordert eine Art Kulturwandel."
Und dann folgt der Ausblick: "Die europäische Antwort". Nun ist vielfach von "Umorientierung" die Rede; es werden "Weichenstellungen" gefordert. Aber wissen wir nun wirklich, wie und wohin wir die Dinge lenken werden?
Im Blick auf die aktuellen Abgründe der aus den Fugen geratenen weltpolitischen Architektur ist man geneigt, Sigmar Gabriel motivierend zuzurufen: "Schreiben Sie möglichst bald einen zweiten Band mit den Antworten auf die großen Krisen und Bedrohungen. Wir sind immer noch auf der Suche nach dem Friedensmuster der Zukunft."
Sigmar Gabriel: "Zeitenwende in der Weltpolitik. Mehr Verantwortung in ungewissen Zeiten", Herder Verlag, 22 Euro
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