Sechs Jahre Grundschule?

Wann sollen Kinder von der Grundschule auf die höhere Schule wechseln? CSU und FDP streiten um den Zeitpunkt für den Übertritt. Die Kontroverse hat einen pikanten Effekt: Experten stellen Bayerns Schulsystem jetzt komplett in Frage
von  Abendzeitung
Bayerns Schulsystem in der Kritik: Die FDP will Haupt- und Realschule zusammenlegen.
Bayerns Schulsystem in der Kritik: Die FDP will Haupt- und Realschule zusammenlegen. © az

Wann sollen Kinder von der Grundschule auf die höhere Schule wechseln? CSU und FDP streiten um den Zeitpunkt für den Übertritt. Die Kontroverse hat einen pikanten Effekt: Experten stellen Bayerns Schulsystem jetzt komplett in Frage

Es ist diese eine Forderung der FDP, die die Diskussion über das deutsche Bildungssystem wieder aufflammen lässt: Sechs Jahre Grundschule wollen die Liberalen – die CSU ist strikt dagegen. Die Christsozialen halten verzweifelt am dreigliedrigen Schulsystem fest. Die AZ erklärt, wer welche Meinung beim Schul-Übertritt hat – und warum viele das System umkrempeln wollen.

Die Staatsregierung: Kultusminister Siegfried Schneider bleibt stur. „Es gibt keinen Beweis, dass ein späterer Übertritt besser für die Kinder ist“, lässt er seinen Sprecher erklären. Dennoch scheint er auch zu Korrekturen bereit zu sein: Der Minister habe angekündigt, das Übertrittsverfahren bis zum Ende des Jahres „neu zu ordnen“, heißt es. Was das bedeutet, behält er für sich.

Die Lehrer: Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband will am liebsten gar keinen Übertritt mehr. Klaus Wenzel, Präsident des Verbands, hat einen Traum: „Ein Bildungshaus, in dem von drei bis 18 Jahren gelernt wird, je nach Fähigkeiten, Interessen und Entwicklung.“ Statt festen Klassen gebe es differenzierte Gruppen. „Lernen wird ein kontinuierlicher Prozess. Wer glaubt, mit Tests die Schullaufbahn vorherzusagen, irrt“, sagt Wenzel. Seine Kritik: „Kinder sind bei uns auf ein Notenbündel reduziert, das ist erbärmlich.“ Von den Vorschlägen der FDP hält Wenzel nichts. Die Kinder würden so nur noch mehr belastet.

Die Eltern: Thomas Lillig von der Landes-Elternvereinigung der Gymnasien findet die derzeitige Übertritts-Regelung gut. „Von einem Wechsel nach der 6. Klasse halte ich nichts.“ Der Druck verringere sich nicht, werde nur verschoben. Sein Vorschlag: Ab der zweiten Klasse sollen Lehrer die Schüler beobachten, mit den Eltern über den weiteren Weg gemeinsam entscheiden. Anders sieht das Isabell Zacharias vom Bayerischen Elternverband. „Es braucht keinen Übertritt, sondern eine gemeinsame Schulzeit bis zur achten Klasse“, sagt die SPD-Politikerin. Einig sind sich die Elternverbände darin, dass neben Noten auch die persönliche Entwicklung des Kindes beachtet werden muss.

Der Psychologe: „Studien sprechen für einen späten Übertritt“, sagt Hartmut Ditton, Professor für Erziehungsforschung an der Uni München. Die Klassen fünf und sechs sollen der Orientierung dienen. „In der Zeit durchlaufen Kinder einen gewaltigen Reifeprozess. Ein Übertritt nach der 6. Klasse entlastet die Kinder.“ Grundlage sollten Noten bleiben, einen zusätzlichen Test sieht der Wissenschaftler kritisch. „Er filtert wie eine vorgezogene Abiturprüfung.“ Ditton kritisiert: „Es ist kaum möglich, von der Realschule auf das Gymnasium zu wechseln. Das System muss durchlässiger werden.“

Der Schul-Entwickler: Ernst Rösner vom Dortmunder Institut für Schulentwicklung hält nichts von einer sechsjährigen Grundschule. „Frühauslese bleibt Frühauslese – auch nach sechs Jahren Grundschule“, sagt er. Die Pisa-Studie habe ergeben: Das Trennen der Kinder voneinander verschärft soziale Unterschiede. Außerdem sei das dreigliedrige Schulsystem kaum durchlässig. Rösner plädiert für eine Gemeinschaftsschule nach dem schleswig-holsteinischen Modell (siehe Infokasten): Die Kinder sollen – unabhängig vom Leistungsniveau – möglichst lange zusammen bleiben.

Anne Kathrin Koophamel, Volker ter Haseborg

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