„Schüler übernehmen die Rolle der Studenten“

Zwölf- bis 14-Jährige sagen heute, was in der Gesellschaft wichtig wird. Interview mit Deutschlands rennommiertestem Jugendforscher über die Demos der Schüler
von  Abendzeitung
Jugendforscher Klaus Hurrelmann
Jugendforscher Klaus Hurrelmann © abendzeitung

Zwölf- bis 14-Jährige sagen heute, was in der Gesellschaft wichtig wird. Interview mit Deutschlands rennommiertestem Jugendforscher über die Demos der Schüler

AZ: In München streiken die Schüler – zum ersten Mal seit Jahren. Sind Schüler politischer geworden?

KLAUS HURRELMANN: Ja, in einer spontanen Weise sind Schüler wieder mehr bereit, sich politisch zu äußern. Überraschend ist das aber nicht.

AZ: Warum nicht?

HURRELMANN: Weil Schüler heute die Rolle der Studenten übernommen haben. Schüler sind eher in einer Phase, in der sie den Kopf frei haben, die Studenten sind heute Laufbahn-orientiert.

AZ: Heißt das: Die Kinder werden immer früher Jugendliche und die Jugendlichen immer früher erwachsen?

HURRELMANN: Ja. für Mädchen beginnt die Jugend heute mit elfeinhalb, für Jungen mit 12. Es ist ein guter Seismograph dafür, was für die Gesellschaft wichtig wird, wenn man auf Zwölf- oder 14-Jährige hört. Deshalb ist es konsequent, wenn man die jungen Leute früher an politischen Entscheidungsprozessen beteiligt, zum Beispiel über die Herabsetzung des Wahlalters.

AZ: Was interessiert die jungen Leute am meisten?

HURRELMANN: Umweltthemen – Schauen Sie sich die Rekordbeteiligung an den Gorleben-Protesten an. Oder Anti-Globalisierungskampagnen. Grundsätzlich ist das Interesse der Jugendlichen an Politik auf einem historischen Tief, das hat die Shell-Jugendstudie belegt. Weil aber alles unsicherer wird: Kriege ich einen Ausbildungsplatz, oder einen Arbeitsplatz? – steigt das Interesse wieder.

AZ: Die Jungen suchen also ein Ventil, um ihren Frust loszuwerden?

HURRELMANN: Wenn eine junge Generation Grund hat, sich zu beklagen, dann diese. Ihr tut was für die Rentner, und was tut Ihr für uns?, fragen sie die Älteren. Wo sind meine Chancen? Kein Wunder, dass sich Protest regt.

AZ: Wie reagieren die Kinder auf Krisen wie die Finanzkrise.

HURRELMANN: Während die Eltern-Generation nur 60 Jahre Frieden kennt, sind die Jüngeren wegen der schwierigeren Perspektiven krisengewohnter.

AZ: Laut Shell-Studie achten die Jungen wieder stärker auf traditionelle Werte. Woher kommt das?

HURRELMANN: Werte sind Vorstellungen vom Wünschenswerten. Und solange die Jungen nicht sicher sind, dass sie finanziell über die Runden kommen, sind Sicherheit, Fleiß und Disziplin wichtiger als Selbstentfaltung und Kreativität.

AZ: Zum Thema Werte: Wie reagieren Kinder auf Regelverletzungen – wenn sie mitkriegen, dass Papa falsch parkt?

HURRELMANN: Das ist eine heikle Geschichte. In diesem Alter prüft man die Regeln, die in der Gesellschaft gelten und wie ehrlich damit umgegangen wird. Ein Vater, der falsch parkt, den Filius aber ermahnt, nur mit Licht am Rad zu fahren, der hat ein Glaubwürdigkeits- und Autoritätsproblem. Erstaunlicherweise geben die befragten Kinder ihren Eltern in dieser Hinsicht aber gute Noten.

Interview: Matthias Maus

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