Schonungslose Abrechnung: Eine Frustmail vom Chef

Sigmar Gabriel schickt seinen Genossen eine beispiellose Analyse: Die SPD sei in einem „katastrophalem Zustand“. In der Basis sieht man das ähnlich – und schöpft sogar Hoffnung
von  Abendzeitung
Seine Stimmung war schon besser: Sigmar Gabriel.
Seine Stimmung war schon besser: Sigmar Gabriel. © dpa

BERLIN - Sigmar Gabriel schickt seinen Genossen eine beispiellose Analyse: Die SPD sei in einem „katastrophalem Zustand“. In der Basis sieht man das ähnlich – und schöpft sogar Hoffnung

So schonungslos hat noch kein Chef mit seiner Partei abgerechnet: In einer E-Mail an die SPD-Basis geht der designierte neue Vorsitzende Sigmar Gabriel auf drastische Weise mit der jüngeren Parteigeschichte ins Gericht. Die Partei sei „in einem katastrophalen Zustand“, mailt Gabriel, schuld am Wahldesaster vom 27. September seien zum Teil jahrzehntelange Versäumnisse: „Wir werden lange brauchen, uns davon zu erholen.“

Die Abrechnungsmail bekamen offenbar alle diejenigen Parteimitglieder, die sich ihrerseits an den kommenden Chef gewandt hatten. „Ich kann den Frust und Ärger in unserer SPD gut nachvollziehen“, antwortet Gabriel, „denn - das glaubt mir bitte - mir und allen anderen hier in Berlin geht es auch so.“ In großen Teilen der Basis gebe es das berechtigte Gefühl, an den Entscheidungen in Berlin nicht wirklich beteiligt zu sein. Dazu konstatiert der kommende Chef viele Mängel in der Parteistruktur: „Der Zustand vieler Ortsvereine und Unterbezirke hat schon sehr lange nichts mehr mit einer Volks- und Mitgliederpartei zu tun.“

Doch Gabriel versucht auch, das eigene Machtzentrum neu aufzubauen – durch feine Nadelstiche gegen zahlreiche Parteigrößen: „Politik ist Führen und Sammeln. In den letzten Jahren haben wir nur geführt, nie gesammelt“, stichelt Gabriel gegen seinen Vorgänger Franz Müntefering und dessen Verhältnis zur Basis. Auch Ziehvater Gerhard Schröder bekommt sein Fett weg: Eine Partei lasse sich nicht „per Dekret von oben“ führen, mailt Gabriel unter Anspielung auf Schröders Basta-Politik.

Der Basis will Gabriel nun auch durch neue Instrumente wie Mitgliederbefragungen bessere Laune verschaffen. Bei den Genossen in München etwa scheint das gut anzukommen: „Der Brief stellt die Verhältnisse wieder vom Kopf auf die Füße“, sagt der Münchner Landtagsabgeordnete Florian Ritter zur AZ: „Innerparteiliche Demokratie kommt wieder vor Disziplin“, so Ritter: „Man kann die SPD nicht führen wie eine preußische Amtsstube unter Bismarck. Das wurde zu lange versucht und hat viele Mitglieder zermürbt.“

Zugleich versucht die in den vergangenen Tagen weitgehend abgetauchte SPD nun auch im Bundestag wieder Fahrt aufzunehmen: Deutlich geschrumpft versammelte sich die von 222 auf 146 Mitglieder eingedampfte Fraktion gestern Nachmittag, um nicht weniger als neun stellvertretende Vizechefs für ihren Vorsitzenden Frank-Walter Steinmeier zu wählen. Die Neun sollen auch eine Art Schattenminister und damit Gegenspieler des schwarz-gelben Kabinetts sein. Mit dabei ist auch der Vorsitzende der Bayern-SPD, Florian Pronold. mue

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