"Schockierend" - Lage im Libanon eskaliert
München/Beirut - Jacqueline Flory (47) gehört zu den Gründungsmitgliedern des Münchner Vereins "Zeltschule", der seit 2012 existiert und mehr als 1500 Mitglieder hat.
AZ: Wie riskant ist es zurzeit im Libanon in Bezug auf den Israel-Gaza-Krieg?
JACQUELINE FLORY: Es ist in Beirut ein allgegenwärtiges Thema, das zu gewalttätigen Ausschreitungen führt. Die Hisbollah ist bei der letzten Wahl von der Bevölkerung abgestraft worden. Hat auch in der schiitischen Bevölkerung viel Zuspruch verloren. Seit den Explosionen im Beiruter Hafen sind viele Menschen der Überzeugung, dass die Hisbollah daran nicht unschuldig ist.
"Schockierend, wie sich die Situation verändert hat"
Es ist schockierend, wie sich innerhalb weniger Wochen diese Situation verändert hat. Es scharen sich wieder Menschen hinter der Hisbollah - nicht nur der schiitische Teil der Bevölkerung, auch andere. Es kollidieren Welten auf Beiruts Straßen. Die, die sagt: "Ja, die Hisbollah muss sich an diesem Krieg beteiligen. Das ist die Chance, dass Israel endlich vernichtet wird." Und die andere Welt, die sagt: "Wir haben so viel in unserem Land zu ertragen, es geht uns so schlecht, wenn wir uns jetzt an einem Krieg beteiligen würden, wäre das schrecklich. Das muss unter allen Umständen verhindert werden."
Welche brenzlige Situation haben Sie erlebt?
Es gibt bei fast jedem Besuch brenzlige Situationen. Es ist ein Krisenland. Den Libanesen geht es sehr schlecht, viele sind unter die Armutsgrenze gerutscht, bekommen keinerlei Hilfe von der Regierung. Die Kriminalität steigt beständig, deswegen ist es auf Beiruts Straßen, in den sehr armen Vierteln, wo wir auch unsere Frosch-Schule gebaut haben, gefährlich.

Konkret ist nichts passiert. Wir hatten auch nicht das Gefühl, dass Leib und Leben bedroht war. Wir merken, dass es viele Checkpoints gibt, auch in Beirut, man wird ständig von Milizen kontrolliert.
Wie ist die Stimmung bei der Zivilbevölkerung?
Ein Teil findet es gut, dass sich der Libanon beziehungsweise dass sich die Hisbollah an diesem Krieg beteiligt. Sie schießt seit dem Tag des Hamas-Angriffs am 7. Oktober täglich Raketen in Richtung Israel. Mittlerweile gibt es Tote auf der libanesischen Seite, weil sich Israel wehrt. Bislang nur in der Grenzregion. Deswegen sind weder Beirut noch die Camps davon betroffen. Es gibt Libanesen, die diese Grenzregionen verlassen, weil sie sagen, es sei dort zu gefährlich, weil sie Angst vor israelischen Gegenschlägen haben.
Viele hatten Angst vor einem Aufruf zum Krieg
Deswegen gibt es einen Teil der Gesellschaft, der sagt, das sei ihre Möglichkeit, sich an diesem Krieg zu beteiligen, Israel zu vernichten. Das ist das ausgeschriebene Ziel der Hisbollah seit ihrer Gründung. Es gibt einen größeren Teil der Bevölkerung, der mit Schrecken auf die ersten Äußerungen von Hisbollah-Anführer Hassan Nasrallah gewartet und große Angst davor hatte, dass er zum Krieg aufruft.
"Die Milizen haben Tränengas eingesetzt"
Den Menschen ist klar: Wenn nicht nur die Hisbollah Israel bekämpft, sondern auch der Libanon in diesen Krieg eintreten würde, dass von dem Land nicht viel übrig bleiben würde. In dieser Gruppe gibt es Leute, die sagen: "Vielleicht brauchen wir einen Krieg, damit die Weltöffentlichkeit sieht, wie schlecht es uns geht."
Warum können Kinder zurzeit nicht in die "Froschschule" gehen?
Sie ist die einzige unserer Schulen, die mitten in Beirut ist, und es ist die, die am allermeisten in Mitleidenschaft gezogen wird. Es ist unser Pilot-Projekt für eine friedensstiftende Schule, in der palästinensische, syrische, libanesische, armenische, schiitische, sunnitische und drusische Kinder, die im Libanon streng getrennt leben, gemeinsam zur Schule gehen. Es sind über 600 Kinder. Sie tragen dieses gemeinsame Lernen und gemeinsame Aufwachsen mit nach Hause und überbrücken diese anerzogene Ablehnung und Abneigung.
"Ich empfinde es umso dramatischer"
Daher empfinde ich es umso dramatischer, dass ausgerechnet diese Schule, in der diese Konflikte thematisiert und bearbeitet werden, vorübergehend schließen muss. Grund: Wir haben einen sehr schlimmen Tag erlebt, an dem die Demonstrationen auf den Straßen in Beirut sehr gewalttätig waren. Die Milizen haben Tränengas eingesetzt, um die Demonstranten auseinanderzutreiben, es gab sogar mehrere Schwerverletzte.
Was erwarten Sie von der Bundesregierung und der EU?
Hilfe für die Menschen im Libanon, damit sie sich nicht hinter Radikale wie die Hisbollah stellen, weil die sich als einzige Retter und Verteidiger darstellen können. Den Libanesen muss geholfen werden - nicht mit Geld an die korrupte Regierung, sondern mit Geld an lokale NGOs vor Ort, die sicherstellen, dass die Gelder bei den Bedürftigen ankommen. Hoffnungslosigkeit führt zu Extremismus, nicht zu Frieden.
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