Sarah Wiener: "Langfristig sollten wir unsere Gewohnheiten ändern"

AZ-Interview mitSarah Wiener: Die 59-jährige ist Unternehmerin, Fernsehköchin und Autorin. Seit drei Jahren sitzt die Deutsch-Österreicherin als Abgeordnete in der Fraktion der österreichischen Grünen im Europäischen Parlament.
AZ: Frau Wiener, wir sehen gerade, wie Russland Weizen als Waffe einsetzt. Die Ukraine ist die Getreidekammer Europas, aber nun sind Häfen blockiert, die Preise steigen. Drohen uns in Europa Versorgungsengpässe?
SARAH WIENER: Nein, es sei denn, man lebt allein von Sonnenblumenöl. In den reichsten Ländern der Welt werden wir immer einen unfairen Vorteil haben, weil wir die Preise bezahlen können. Es ist ja genug da. Die Probleme, warum es trotzdem fast eine Milliarde Hungernde gibt, sind anderer Natur. Arme Länder können sich die explodierenden Preise nicht leisten. Außerdem sehen wir ein Verteilungsproblem. Es gibt viele regionale Konflikt-potenziale, Korruption, Kriege, Dürre. Es fehlen Strukturen wie Lager und Kühlhäuser. Deshalb gehen im globalen Süden 50 Prozent der Ernten verloren. Aber wir haben Länder auch abhängig gemacht von billigen Importen. Denen wurde gesagt, sie sollen statt der traditionellen Getreidesorten für den regionalen Markt, die an Klima und Boden angepasst waren, zum Beispiel Baumwolle für den Welthandel anbauen. Als Folge haben viele Länder nun keine eigene Ernährungssouveränität mehr. Eritrea beispielsweise importiert heute 90 Prozent seines Weizens.

Was kann die EU tun, um eine globale Hungersnot abzuwenden?
Wichtig ist, die Märkte offenzuhalten und Spekulationen zu unterbinden. Wenn jetzt wie Indien, China oder Ungarn alle ihren Weizen für sich behalten und so Getreide noch einmal künstlich verknappen, ist das kontraproduktiv. Die betroffenen Länder brauchen dringend finanzielle Unterstützung, um den teuren Weizen bezahlen zu können. Außerdem gibt es langfristige Maßnahmen. Essen sollte zum Beispiel nicht in den Tank und in den Trog, sondern auf den Teller.
"Nur 20 Prozent des Getreides sind für Lebensmittel"
Was meinen Sie?
In Europa gehen 60 Prozent des Getreides in den Futtertrog und ungefähr 20 Prozent in den Tank. Das heißt, dass nur 20 Prozent des Getreides überhaupt als Lebensmittel direkt für die menschliche Ernährung sind. Weltweit sind es 30 Prozent, die in den Trog gehen, woran man das Missverhältnis erkennt. Europa isst wahnsinnig fleischlastig und exportiert massenweise Fleisch. Hinzu kommt, dass Tiere meist auch nicht wesensgemäß ernährt werden. Die Kuh ist nicht dafür gemacht, Soja und Weizen zu fressen. Sie ist das Wunderwesen, das aus Gras und Heu Milch und Fleisch machen kann, ohne Nahrungskonkurrent zum Menschen zu sein. Die Agrarindustrie hat sie erst dazu gemacht.

Könnte denn Europa einfach mehr produzieren oder mehr Getreide mobilisieren, um den Markt zu entlasten? Auch in Deutschland fordern viele, Flächen zu nutzen, die eigentlich brachgelegt werden sollen.
Wenn wir diese 20 Millionen Tonnen aus der Ukraine in die ärmeren Länder verschifft bekommen, wird die Lage hoffentlich nicht so dramatisch sein, wie wir befürchten. Agroindustrie und deren Lobbyisten schreien wie eh und je, die Brachflächen müssten geopfert werden. Europa produziert jedoch nicht für die Ärmsten. Wir sind der High-End-Anbieter. Es gibt eine wissenschaftlich fundierte Erklärung, warum es Brachen geben muss. Studien sagen, wir brauchen sie, um die Vielfalt zu erhalten, um Nährstoffüberschüsse aufzunehmen und Rückzugsräume für gefährdete Arten und Bestäuber zu ermöglichen. Und das umso dringender an Orten, wo es keine natürlichen Landschaftselemente mehr gibt und Hektar für Hektar wechselweise Mais, Weizen, Raps angebaut wird.
Müssen wir als Verbraucher ebenfalls unseren Konsum überdenken, um der Krise zu begegnen?
Langfristig sollten wir unsere Ernährungsgewohnheiten ändern. Es kann ein Befreiungsschlag sein, auf einmal wieder hunderte von verschiedenen regionalen Lebensmitteln und wilde Getreidearten zu essen und sich daran zu erfreuen, dass sie überall anders schmecken. Es geht um mehr Geschmack, mehr Genuss und unsere Gesundheit. Ab und an Fleisch, von einem Tier, das ein gutes Leben gehabt hat, erfreut auch unsere Seele.
Mehr Tierwohl, gesunde Ernährung, bessere Lebensmittel, nachhaltige Landwirtschaft
Sie streiten für mehr Tierwohl, gesunde Ernährung, bessere Lebensmittel und nachhaltige Landwirtschaft. Wie bewerten Sie hier die Situation?
Wir stehen an einem Scheitelpunkt, der hochgefährlich ist. Es gibt keinen Zweifel, dass wir mit vielfachen Krisen konfrontiert sind und uns unsere eigene Lebensgrundlage zerstören. Das fängt bei klarem Wasser an und geht bis hin zu Umweltgiften, die sich in der Muttermilch anreichern. Die Frage ist jetzt: Wer übernimmt die Deutungshoheit? Sind es dieselben konservativen und oft auch reaktionäre Kräfte, die uns in diesen Sumpf geführt und in den letzten 40 Jahren keinerlei nachhaltige Lösungen auf den Tisch gelegt haben? Oder sind wir gewillt und mutig genug, zu sagen: Lass es uns mal anders probieren.
Sie legen sich immer wieder mit der eigenen grünen Fraktion an, etwa bei der Abstimmung darüber, ob die Begriffe Steak oder Wurst künftig nur noch für Produkte aus Fleisch benutzt werden sollten. Die Mehrheit war gegen das Verbot, Sie waren dafür. Warum?
Ich bin schon sehr gut aufgehoben in meiner Fraktion. Ich meine nur: Wer kreativ genug ist, sich neue Nahrungsmittel auszudenken, sollte auch mutig und kreativ genug sein, den passenden Namen zu finden. Viele Menschen lesen Wurst und denken, es ist Wurst, ohne das Kleingedruckte zu beachten. Aber es gibt einen großen Unterschied zwischen einem Urprodukt und einem hochverarbeiteten Endnahrungsmittel. Künstliche Nahrungsmittel machen nichts für das Ökosystem, sie werden patentiert, oft von den gleichen Konzernen, die uns die Massentierhaltung eingebrockt haben. Und ich kritisiere ja alle Surrogate, von Analogkäse über Fake-Produkte wie Kunstschokolade bis zu Kunstfleisch. Wenn man sich und der Mitwelt etwas Gutes tun will, dann kocht man frisch mit Grundprodukten, am besten aus der Region. Sternchen gibt es, wenn sie aus ökologischem Anbau stammen.
Das muss man sich aber leisten können. Schon jetzt ächzen die Menschen unter gestiegenen Lebensmittelpreisen.
Wir haben noch immer die billigsten Preise in Europa. Wir schmeißen 30 Prozent unserer Lebensmittel in den Müll. Wir bezahlen als Gesellschaft für die Sünden der Agroindustrie, mit unserer Gesundheit, mit Tierleid oder finanziell mit Steuern. Außerdem dürfen wir nicht die soziale mit der ökologischen Frage vermischen. Wir können nicht sagen, weil manche Menschen schlecht bezahlt werden und sich nicht gesund ernähren können, ist die Lösung, wir essen jetzt alle minderwertig oder bezahlen alle schlecht. Wenn es in einem der reichsten Länder der Welt Menschen gibt, die sich keine gesunden, frischen Lebensmittel leisten können, muss etwas am Wirtschaftssystem geändert werden, nicht am ökologischen System.