Interview

Russland-Experte über die Gefährlichkeit von Putin: "Ich würde ihm alles zutrauen"

Historiker Ulf Brunnbauer spricht über die Absichten von Wladimir Putin, Desinformation in Russland und die Fehler deutscher Außenpolitik.
Natascha Probst |
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Ein Demonstrant hält ein Plakat mit dem Bild des russischen Präsidenten Wladimir Putin - darauf steht "Killer" (Mörder).
Ein Demonstrant hält ein Plakat mit dem Bild des russischen Präsidenten Wladimir Putin - darauf steht "Killer" (Mörder). © Luka Dakskobler/dpa

Regensburg - AZ-Interview mit Ulf Brunnbauer: Der 52-Jährige ist Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte Südost- und Osteuropas an der Universität Regensburg und wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung.

Prof. Dr. Ulf Brunnbauer, Wissenschaftlicher Direktor, Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
Prof. Dr. Ulf Brunnbauer, Wissenschaftlicher Direktor, Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg © Juliane Zitzlsperger/ neverflash

AZ: Herr Brunnbauer, 2010 hat Wladimir Putin noch von einer Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok geträumt - unterstützt damals von Gerhard Schröder. Von diesem wird er nun zwar immer noch unterstützt, aber aus der Freihandelszone ist nichts geworden. Was ist schiefgelaufen?
ULF BRUNNBAUER: Das ist eine sehr schwierige Frage. Was wir jetzt sehen, ist ein durch nichts gerechtfertigter und durch nichts provozierter Angriff Russlands gegen die Ukraine, der wohl darauf beruht, dass Putin die Ukraine zurück ins "russische Reich" holen will und von der Idee besessen ist, die Sowjetunion wieder zu erschaffen. Das ist Ausdruck einer Entfremdung vom Westen. Retrospektiv würde ich allerdings sagen, dass diese Aussagen vor zwölf Jahren nicht für bare Münze genommen werden können. Eigentlich macht er seit seiner Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 ziemlich klar, dass er den Westen für einen Feind hält, der Russland zerstören will. Was natürlich völliger Unsinn ist. Aber dieses Verschwörungsbild hat sich in den letzten Jahren immer mehr verstärkt.

"Die Europäer waren zu naiv - insbesondere die Bundesrepublik"

War der Westen zu lange zu naiv?
Ja, und zwar in vielerlei Hinsicht. Die USA weniger, aber die Europäer waren zu naiv, die Bundesrepublik insbesondere. Sie hat eine Politik gemacht, die auf der Illusion beruhte, es gäbe keine sicherheitspolitischen Herausforderungen durch Russland. Dabei haben viele Analysten schon seit Jahren darauf hingewiesen, dass man sich auf schlimmste Szenarien einstellen sollte. Immerhin hat Russland schon 2008 ein Nachbarland, Georgien, überfallen, ohne von diesem angegriffen worden zu sein.

Putin rechtfertigt seinen Krieg ja unter anderem damit, dass die Ukraine durch Lenin entstanden sei. Wie kommt er darauf?
Es ist eine leider nicht nur bei Putin, sondern auch bei vielen Russen weitverbreitete Meinung, dass es sich bei den Ukrainern gar nicht um eine eigene Nation handelt. Ukrainer sind in ihren Augen die kleinen Brüder der Russen, die einen komischen Dialekt sprechen. Dabei ist das Ukrainische eine andere Sprache, die die Russen auch nicht so ohne Weiteres verstehen. Die ukrainische Nation gibt es seit dem 19. Jahrhundert. 1917 gab es für kurze Zeit auch eine unabhängige Ukraine. Sie ist also alles andere als eine Erfindung Lenins. Die ukrainische Sowjetrepublik, aus der heraus die heute unabhängige Ukraine entstanden ist, wurde zwar von den Sowjets geschaffen, aber das gilt genauso für das heutige Russland. Und schon damals gab es ein starkes Gefühl, eine eigene Nation zu sein. Eine Nation, die halt in der Sowjetunion leben muss. Putins Aussage ist also schlicht falsch, sie beruht auf einem mythologischen Grundverständnis, wo es keinen Platz gibt für Nachbarnationen, die frei und unabhängig sein wollen.

"Putin fürchtet nichts mehr, als eine funktionierende Demokratie"

Wie kommt es, dass die Ukraine heute ein so freies Land ist?
Das war hart erkämpft. 1991 wurde die Ukraine mit dem Zerfall der Sowjetunion unabhängig. Seitdem kämpfen die Ukrainer für Demokratie. Eine Zeit lang gab es große Differenzen zwischen der Ost- und Westukraine, in den letzten drei Jahrzehnten wurde das Bekenntnis zur Ukraine aber immer stärker. Und das ist auch etwas, was Putin, glaube ich, ärgert. Und nun hat sich aufgrund der russischen Aggression in der Ostukraine, sowie der Annexion der Krim 2014, die Nationsbildung in der Ukraine noch deutlich verstärkt, sodass auch eine klare Mehrheit der russischsprachigen Ukrainer eine unabhängige Ukraine will. Seit der Revolution 2014 ist die Ukraine eine - natürlich mit ihren Problemen behaftete - Demokratie. Die Ukraine hat sich innerhalb von wenigen Jahren zu einem sehr, sehr demokratischen und freien Land entwickelt, mit Meinungsfreiheit und einer sehr dynamischen sozialen und kulturellen Szene. Und das ist einer der Gründe für den Hass und die Rachegelüste Putins. Denn er fürchtet nichts mehr als eine funktionierende Demokratie am Rande Russlands, die den Menschen zeigen könnte, dass man eine Wahl über seine Zukunft hat.

Was bedeutet das für Länder wie Estland, Lettland oder Litauen?
Das ist nun die große Frage: Wird Putin mit der Ukraine vorlieb nehmen? Man muss davon ausgehen, dass die russische Armee den Krieg gewinnt. Ob es dann weiterhin bewaffneten Widerstand gibt - so nach dem Muster Afghanistan -, das wissen wir nicht. Aber der unmittelbaren Invasion werden die ukrainischen Truppen nicht standhalten können. Vor allem weil wir davon ausgehen müssen, dass die russische Armee die Städte mit großer Brutalität zerstört. Das kennen wir aus Tschetschenien und auch aus Syrien. Sie setzen Waffen ein, die völkerrechtlich verboten sind. Das wird wirklich ganz, ganz bitter.

"Politiker sollten vom schlechtesten möglichen Szenario ausgehen"

Was ist zu tun?
Meine Empfehlung an die Sicherheitspolitiker wäre: Vom schlechtesten möglichen Szenario ausgehen. Putin macht ja kein Geheimnis daraus, wie sehr er den Westen hasst. Und dass ihn im Grunde Revanchismus, also die Rückgängigmachung des Zerfalls der Sowjetunion, antreibt. Ob das auch die baltischen Staaten meint, wissen wir nicht, aber wir sollten es nicht ausschließen. Wir haben jetzt gesehen, dass Putin bereit ist, bis zum Extrem zu gehen. Er führt einen Angriffskrieg, der wohl auf die Tötung des Präsidenten der Ukraine und die totale Unterwerfung des Landes hinauslaufen soll. Wenn er dieses Risiko eingeht, wieso sollte man dann nicht glauben, dass er nicht auch bereit ist, ins Baltikum einzumarschieren? Den Vorwand hat er schnell erfunden: Auch dort leben große russische Minderheiten, vor allem in Lettland und Estland, da kann man auch schnell wieder diese Propagandalüge mit dem Genozid aufbauen. Übrigens: Das Land, das jetzt akut bedroht ist, ist die Republik Moldau.

Glauben Sie, dass Putin bereit wäre, Atomwaffen zu verwenden?
Ich würde ihm mittlerweile alles zutrauen. Er hat in den letzten Jahren immer auf das nukleare Potenzial Russlands hingewiesen. Und wir haben es hier mit einem Diktator und Verbrecher zu tun, der in einer ganz anderen Rationalität denkt, als wir das üblicherweise tun. Nuklearwaffen sind aber eher unwahrscheinlich. Russland hat jedoch auch Massenvernichtungswaffen unterhalb der Schwelle von Nuklearwaffen, regelrechte Massenflammenwerfer zum Beispiel, die im Umkreis von mehreren Hundert Metern alles zerstören und jedes Leben auslöschen. Man weiß auch, dass diese schon auf dem Weg in Richtung Ukraine sind.

"Man muss die Kriegsmaschinerie stoppen"

Wie kann es weitergehen?
Diplomatie ist im Grunde unmöglich. Man wird versuchen müssen, die Kampfhandlungen in der Ukraine zu beenden. In einer solchen Situation ist ein Waffenstillstand immer das wichtigste erste Ziel. Aber die Forderungen, die Russland stellt, sind völlig unerfüllbar. Sie beruhen auf Lügen. Man kann die Ukraine nicht entnazifizieren, wenn es keine Nazis gibt. Der Präsident der Ukraine ist Jude. Wenn man ein Land defaschisieren muss, dann ist es Russland, aber sicher nicht die Ukraine. Man muss die Kriegsmaschinerie stoppen und dann glaube ich, sind wir gerade am Beginn eines neuen Kalten Krieges. Solange Putin noch da ist, wird der Westen eins machen müssen: aufrüsten. Und zu dem Mittel greifen, das auch die Sowjetunion zum Ende gebracht hat: durch die wirtschaftliche Überlegenheit Russland kaputtrüsten. Aber das ist eine Arbeit von mehreren Jahren, wenn nicht Jahrzehnten.

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Endet Putins Krieg, wenn Putin nicht mehr an der Macht wäre?
Ich hoffe. Aber viele Probleme trägt Russland in sich, auch ohne Putin. Nämlich die Unfähigkeit, oder vielleicht sogar den Unwillen, eine Demokratie zu werden. Das ist schon ein gesellschaftliches Problem. Oder diese Empathielosigkeit. Menschenleben - auch die der eigenen Bevölkerung — zählen sehr wenig. Oder auch der Glaube an den starken Staat und an die Überlegenheit gegenüber den Nachbarn. Das kann man nicht nur dem Kreml anlasten, der das natürlich systematisch gepredigt hat. Gerade die russisch-orthodoxe Kirche sollte man für die Propagierung dieser ideologischen Fundamente stark mit in die Verantwortung nehmen.

"Putin hat sicher einen langen Atem"

Welche Propaganda bekommen die Russen gerade zu sehen?
Man erfährt von der Aggression des Westens, dass Russland ökonomisch gut gerüstet sei und von den Verbrechen der "Nazis" in der Ukraine. Die Russen leben in einer völlig anderen Medienwelt. Einfache Menschen, die keine anderen Medien konsumieren, erfahren nur das, was die Staatsmedien ihnen vorsetzen - und das ist ein völlig verzerrtes Bild der Welt. Und bis vor Kurzem konnten sie ihre Propaganda auch in Deutschland verbreiten. Warum man Russia Today erst jetzt vom Netz nimmt, ist nicht verständlich - im Grund ist das so, als hätte man zum Beispiel in England im Zweiten Weltkrieg den "Völkischen Beobachter" erscheinen lassen.

War dieser Krieg schon seit Langem vorbereitet?
Es ist nicht auszuschließen, dass diese Pläne nicht schon seit Jahren vorbereitet wurden und man nur auf den richtigen Zeitpunkt gewartet hat: eine relativ gute wirtschaftliche Situation in Russland, ein uneiniges Europa, ein - aus russischer Sicht - schwacher amerikanischer Präsident. Putin glaubt, sich in einer historischen Mission zu befinden und hat daher sicher einen langen Atmen. Er ist jetzt 69 und sichtlich nicht krank, das heißt, wir müssen mit ihm noch mehrere Jahre rechnen.

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13 Kommentare
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  • Der Münchner am 08.03.2022 15:52 Uhr / Bewertung:

    Nein, aber dann lassen wir doch bitte auch unsere Wichtigtuerei dabei. Letztlich geht's immer um die Wirtschaft, also um's Geld.

  • Bongo am 09.03.2022 08:13 Uhr / Bewertung:
    Antwort auf Kommentar von Der Münchner

    Was heißt „unsere Wichtigtuerei dabei“? Könnten Sie das bitte näher ausführen. Danke!

  • Der wahre tscharlie am 07.03.2022 16:12 Uhr / Bewertung:

    Ein sehr gutes Interview. Und den meisten Punkten kann ich zustimmen.
    Und ja, der Westen war zu lange naiv, und er hat bei Putins Reden nicht genau zugehört, sonst hätte man die Gefahr vielleicht früher erkannt.
    Und ich denke, es spielt auch eine Rolle, dass Obama Rußland als Regionalmacht verspottet hat.
    Zur Erinnerung....Obama hatte in einer Rede in Washington Trump vor allen Leuten verspottet. Wir wissen was dann passierte.

    Und Putin wird v i e l l e i c h t den Krieg gewinnen, aber er wird in der Ukraine immer eine verhasste Person sein.
    Und das Problem ist, dass es in der Welt immer mehr autokratische Führer gibt. Ob in China, Nordkorea, Phillipinen, Brasilien.....und Trump scharrt auch schon wieder mit den Hufen.

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