Reinhard Marx schreibt über die Euro-Krise
Der Münchner Kardinal und Erzbischof fürchtet einen Rückfall in nationale Egoismen. Er vermisst Sinn für Maß und Miteinander – bei den Griechen und bei CSU-Politikern
MÜNCHEN Griechische Zeitungen zeigen Fotomontagen von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Nazi-Uniform, deutsche Politiker fordern, an Griechenland müsse „ein Exempel statuiert werden“ oder beschimpfen den Präsidenten der Europäischen Zentralbank als „Falschmünzer“. Verliert Europa angesichts der Schuldenkrise seiner Mitgliedsstaaten den Sinn für Maß und vernünftiges Miteinander?
Die bedauernswerten Rückfälle in Populismus und nationale Egoismen sind nicht nur brandgefährlich für die Zukunft der Europäischen Union, sie nehmen sich vor dem Hintergrund der europäischen Erfolgsgeschichte auch erschreckend kleingeistig aus.
Nachdem die Völker Europas zwei Weltkriege geführt hatten und der Kontinent verwüstet war, brachte die europäische Einigung eine beispiellose Epoche des Friedens. Das wirtschaftliche Zusammenwachsen der Staaten war und ist dafür eine wichtige Voraussetzung. Doch war es für die Gründerväter des modernen Europa nie ein Selbstzweck. Die Idee eines vereinten und versöhnten Europa in Frieden und Freiheit stand stets über allem.
Diese Vision speist sich aus den christlichen Wurzeln des Kontinents, ist vom christlichen Menschenbild geprägt und vom Gebot der Nächstenliebe: Menschenrechte, Religionsfreiheit, Soziale Marktwirtschaft, kulturelle Vielfalt – unsere Vorstellungen von Demokratie und Menschenwürde, von Gerechtigkeit und einer sozialen Form des Wirtschaftens, die dem Menschen dient und nicht dem Kapital, sind in einem großen Teil dieser Erde nicht annähernd verwirklicht. Haben wir all dies vergessen, wenn wir über Rettungsschirme oder Eurobonds streiten?
Finanztechnische Probleme sind natürlich zu lösen und die Schuldenmacherei der öffentlichen Haushalte muss gestoppt werden. Doch damit kann die Diskussion nicht beendet sein. Die zentrale Frage lautet: Ist Europa noch die Schicksalsgemeinschaft, als die Konrad Adenauer und Charles de Gaulle, Helmut Kohl und Francois Mitterand es verstanden haben?
Europa muss sich seiner Idee vergewissern, es muss geistig wieder auf die Beine kommen. Nur so kann es weiter zusammenwachsen – wirtschaftlich, aber verstärkt auch politisch und sozial. Nur so kann ein wirkliches europäisches Gemeinwesen entstehen. Voraussetzung dafür ist ein neuer Prozess der Selbstvergewisserung: Wer sind wir, was macht uns aus? Die große Mehrheit der Menschen in Europa bekennt sich zu ihren christlichen Überzeugungen und Werten – und deshalb müssen sie ein entscheidender Ausgangspunkt für eine Neuorientierung der EU sein. Ich bin überzeugt, dass Europa ohne das Christentum seine Identität nicht finden wird.
Diese Neuerfindung des europäischen Projekts ist nicht einfach und gewiss nicht schnell zu haben. Es braucht dazu einen politischen Prozess, der uns und die kommende Generation stark herausfordern wird. Die Kirche hat den Auftrag, daran mitzuwirken. Dem stelle ich mich auch ganz persönlich. Denn die Kirche ist bei der Verkündigung des Evangeliums nicht nur auf die Weitergabe der Glaubenswahrheiten beschränkt, sondern sie hat die Lebenswirklichkeit der Menschen zu sehen und an deren Verbesserung mitzuwirken. Die Katholische Soziallehre will das Evangelium Jesus Christus auf die konkrete gesellschaftliche Situation anwenden. Sie nimmt den ganzen Menschen in seinen Lebensumständen in den Blick. Diese Perspektive hat die Gründungsväter der europäischen Integration ebenso beflügelt wie die Pioniere der Sozialen Marktwirtschaft, die zum Erfolgsmodell der jungen Bundesrepublik wurde und die bis heute für die europäischen Kernstaaten maßgebend ist.
Es gibt keine vernünftige Alternative zur europäischen Einigung. Das gilt gerade auch im Blick auf eine globalisierte Welt, in der das Gewicht Europas schwindet. Es gilt, das europäische Menschenbild einzubringen zum Wohle aller. Der große europäische Staatsmann Jean Monnet hat es auf den Punkt gebracht: Europa soll ein Beitrag sein für eine bessere Welt! Nicht mehr, aber auch nicht weniger!