Reiner Hoffmann: "Beitragssätze jetzt erhöhen"

DGB-Chef Reiner Hoffmann erklärt, warum ein Kurswechsel bei der Rente nötig ist und wieso die Kanzlerin ihre Europa-Politik ändern muss
Interview: Otto Zellmer |
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Der gebürtige Wuppertaler, Reiner Hoffmann, (61) ist seit dem Jahr 2014 Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).
dpa 2 Der gebürtige Wuppertaler, Reiner Hoffmann, (61) ist seit dem Jahr 2014 Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).
Mit ihrer neuen Kampagne will der DGB die Bundesregierung dazu bringen, in der Rentenpolitik umzuschwenken.
imago 2 Mit ihrer neuen Kampagne will der DGB die Bundesregierung dazu bringen, in der Rentenpolitik umzuschwenken.

Der gebürtige Wuppertaler (61) ist seit dem Jahr 2014 Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).

AZ: Herr Hoffmann, auch wenn meine Rente noch in weiter Ferne liegt: Wie lange muss ich mit meinen aktuell 26 Jahren arbeiten?
REINER HOFFMANN: Wenn’s nach dem DGB geht, auf keinen Fall länger als bis zum vollendeten 67. Lebensjahr.

Tatsächlich nur bis 67? Das überrascht mich.
Es ist doch keine Lösung, das Rentenalter zu erhöhen. Wir haben genügend andere Stellschrauben bei der Rente. Schauen Sie doch mal: Bereits heute erreichen 30 Prozent der über 60-Jährigen nicht das gesetzliche Renteneintrittsalter, weil sie schlicht und ergreifend ausgelaugt sind und ihren Job nicht mehr ausüben können.

Neuer DGB-Chef: Große Mehrheit für Reiner Hoffmann

Bauarbeiter zum Beispiel.
Das Problem zieht sich durch viele Branchen. Für einige Bundestagsabgeordnete mag es zwar nicht gelten (lacht). Aber wir müssen dafür sorgen, dass Menschen länger gesund durchs Erwerbsleben gehen können. Dazu brauchen wir auch flexiblere Übergänge in die Rente.

Viele Bürger befürchten, dass ihnen ohne private Vorsorge später gar nichts mehr bleibt. Wie wichtig ist es für die jüngere Generation, jetzt schon fürs Alter zu sparen?
Die private Vorsorge ist ein dünnes Eis, weil sie von den Kapitalmärkten abhängig ist. Darauf darf man nicht setzen, wenn es um die soziale Sicherheit der Menschen im Alter geht. In den USA sind aufgrund der Finanzkrise ganze Pensionsfonds zusammengebrochen, sodass viele Menschen dort gar keine Rente mehr bekommen. Das ist brandgefährlich. Wir müssen die gesetzliche Altersvorsorge stärken. Dann haben Menschen auch die Perspektive, ein halbwegs vernünftiges Rentenniveau zu erhalten.

Aktuell liegt dieses bei etwa 48 Prozent. Tendenz: fallend. Millionen der heute Jungen könnten 2040 von Altersarmut betroffen sein.
Das Rentenniveau würde auf 44, 43 Prozent absinken, wenn wir nicht entgegensteuern. Gleichzeitig steigen aber die Beiträge. Das geht gar nicht, das ist eine Delegitimierung der gesetzlichen Rentensysteme. Deshalb brauchen wir einen Kurswechsel in der Rentenpolitik, um frühzeitig Vorsorge zu treffen.

Der Slogan des DGB lautet: „Rente muss auch morgen reichen!“. Wie genau soll dieser Kurswechsel aussehen?
Der erste Schritt muss sein, das gesetzliche Rentenniveau zu stabilisieren. Um eine Demografie-Reserve aufzubauen, sollten wir deswegen jetzt schon beginnen, die Beitragssätze in die gesetzliche Rentenversicherung behutsam anzuheben – und nicht erst ab 2020, wie im Gesetz vorgesehen.

Welche weiteren Optionen gibt es?
Um dem Problem der demografischen Entwicklung zu begegnen, brauchen wir eine geregelte Zuwanderung. Viele Frauen wollen auch aus der Teilzeit-Falle heraus und wieder länger arbeiten. Das sollte man unterstützen. Zuwanderung und mehr Vollzeitbeschäftigte zu vernünftigen Löhnen heißt auch: mehr Beitragszahler. Andererseits müssen wir die Ausgaben überprüfen. Die Mütterrente ist zwar ein wichtiges Instrument, darf aber nicht zulasten der Renten-Beitragszahler gehen. Das ist eine klassische sozial-politische Aufgabe, die der Staat über Steuern finanzieren muss – das allein bringt sieben Milliarden Euro pro Jahr.

Bundeskanzlerin Angela Merkel kritisiert, mit der Kampagne schürten Sie Ängste und spielten der AfD in die Hände.
Die Kanzlerin ist natürlich daran interessiert, dass wir die Rente nicht zum Wahlkampfthema machen. Doch die Gewerkschaften müssen die Parteien fordern, zu dem für viele Menschen wichtigen Thema eine klare Position zu beziehen. Gerade weil die Menschen verunsichert sind, muss es die Kampagne für einen Kurswechsel in der Rentenpolitik geben. Wir müssen Perspektiven aufbauen.

Wie wollen Sie den Bürgern diese Sicherheit geben?
Indem wir das im internationalen Vergleich durchaus robuste deutsche gesetzliche Rentensystem stabilisieren und weiterentwickeln. Dann werden es auch die rechten Populisten wesentlich schwerer haben, auf Stimmenfang zu gehen.

Trotzdem: In vielen europäischen Ländern feiern rechte Parteien große Erfolge. Wie kann die Politik diesen Vormarsch stoppen?
Gerade Deutschland profitiert ungemein vom europäischen Integrationsprozess, wirtschaftlich wie gesellschaftlich. Aber nur mit einer wesentlich solidarischeren Politik wird es Europa schaffen, die Herausforderungen zu bewältigen. Hinter diesem Ziel muss man die Europäer versammeln. Eine dieser Herausforderungen ist, die Fluchtursachen gemeinsam zu bekämpfen.

Es klingt, als wären Sie nicht zufrieden mit der deutschen Europapolitik.
Sie war in den vergangenen Jahren schlichtweg verfehlt. Die Kanzlerin sollte jetzt andere Akzente setzen, als sklavisch am Austeritäts-Kurs in Brüssel festzuhalten.

Viele Bürger in Deutschland haben in den vergangenen Monaten Vertrauen in die Politik verloren. Wie müssen die Parteien entgegensteuern?
Die etablierten Parteien leiden derzeit extrem unter fehlender Glaubwürdigkeit, das müssen sie lösen. Die AfD-Wähler sind ja nicht alles Nationalisten – im Gegenteil. Man muss ihre Sorgen ernst nehmen und dafür Antworten finden, die eben nicht populistisch sind und eine Halbwertszeit von 24 Stunden haben.

Viele Unternehmen, auch in Bayern, leiden unter den Sanktionen gegen Russland. Wie bewerten Sie das Treffen der Kanzlerin mit Wladimir Putin von Mittwochabend?
Der Gesprächsfaden mit Russland darf keinesfalls abreißen. Alle Anstrengungen, die zu einer Befriedung der multiplen Krisenherde führen und zu einer Stärkung der Vereinten Nationen, können nur richtig sein.

Sie haben sich bei Ceta auch gegen SPD-Parteichef Sigmar Gabriel gestellt, forderten Nachbesserungen beim Freihandelsabkommen. Wie ist da aktuell der Stand?
Meine Kritik richtete sich ja nicht an Sigmar Gabriel. Ich habe bereits im September 2014 mit ihm eine Erklärung zu TTIP gemacht, wo wir drei zentrale Anforderungen formuliert haben: kein privater Investitionsschutz, Sicherung der öffentlichen Daseins-Vorsorge und Stärkung von Arbeitnehmer-, Umwelt- und Sozialrechten. Die privaten Schiedsgerichte sind bereits vom Tisch. Es darf aber auch bei einem öffentlich-rechtlichen Handelsgerichtshof nicht zu einer Privilegierung von ausländischen Investoren kommen.

Im Dezember hatten sie gefordert, Sigmar Gabriel solle im Bundestagswahlkampf gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel antreten. Bleiben Sie bei Ihrer Meinung, auch wenn viele Deutsche lieber Martin Schulz in dieser Position sehen würden?
Dieses Thema muss die SPD zuerst intern lösen. Da ist es selbstverständlich, dass Sigmar Gabriel als Parteivorsitzender das erste Zugriffsrecht hat. Ich gehe davon aus, dass er davon Gebrauch machen wird.

Sie sind selbst SPD-Mitglied. Wie traurig wären Sie, wenn die Sozialdemokraten nach der Wahl 2017 in der Opposition landen?
Ich persönlich will keiner Farbenlehre folgen. Der DGB wird die Parteien daran messen, mit welchen programmatischen Aussagen sie in die Bundestagswahl gehen. Da werden wir als Einheitsgewerkschaft klare Anforderungen an alle Parteien formulieren. Erst nach der Wahl werden wir sehen, welche Regierungskonstellation für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Land die beste ist.

Eine Neuauflage der Großen Koalition nach 2017 käme für Sie also auch infrage?
Generell geht der Trend ja dahin, dass Große Koalitionen immer kleiner werden, der rechte Rand aber immer größer. Mit Blick auf Österreich und manch andere Länder müssen wir schon feststellen, dass große Koalitionen eben zwangsläufig nicht dazu beitragen, genau diesen rechten Rand zurückzudrängen. Das bereitet mir Sorgen.

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