Reich-Ranicki schildert Deportation der Warschauer Juden
Berlin – In einer eindringlichen Schilderung hat der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki im Bundestag vom Beginn der Deportation der Juden aus dem Warschauer Ghetto berichtet. Zum 67. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz erzählte der 91-jährige Überlebende als Zeitzeuge, wie die SS im Juli 1942 die „Umsiedlung“ anordnete.
Reich-Ranicki arbeitete als Übersetzer für den Judenrat und wurde in das Zimmer des Obmanns Adam Czerniaków gerufen. Der SS-Sturmbannführer Hermann Höfle suchte einen Protokollanten. „Ich bejahte knapp“, erzählte Reich-Ranicki mit brüchiger Stimme. Reich-Ranicki erfuhr als Protokollant, dass die SS die sofortige „Umsiedlung“ der Warschauer Juden „nach Osten“ anordnete. Unter anderem die Ehefrauen und Kinder der beim Judenrat Beschäftigten würden ausgenommen. Sofort habe er seine Freundin Teofila gerufen. Sie heirateten noch am gleichen Tag. Reich-Ranickis Ehefrau starb 2011 nach 69 Ehejahren.
Zum Schluss seiner bewegenden Rede sagte er bilanzierend: „Die in den Mitvormittagsstunden des 22. Juli 1942 begonnene Deportation der Juden aus Warschau nach Treblinka dauerte bis Mitte September. Was die 'Umsiedlung der Juden' genannt wurde, war bloß (...) eine Aussiedlung, die Aussiedlung aus Warschau. Sie hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck – den Tod.“
Reich-Ranicki war ganz offensichtlich gesundheitlich angeschlagen. Bundespräsident Christian Wulff und der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Andreas Voßkuhle, stützten den 91-Jährigen auf dem Weg zum und vom Rednerpult. An dem Gedenken nahmen auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundesratspräsident Horst Seehofer (CSU) teil. Nach der Rede herrschte im Bundestag minutenlange Stille, unterbrochen durch verhaltenen Beifall.
Am Holocaust-Gedenktag wird weltweit der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Am 27. Januar 1945 waren die Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz befreit worden. Auschwitz steht für den Völkermord und die Millionen Menschen, die vom Nazi-Regime verfolgt und umgebracht wurden. Seit 1996 erinnert auch der Bundestag jährlich in einer Gedenkstunde an die Befreiung des Vernichtungslagers.
Zunächst hatte Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) Bürger gewürdigt, die sich gegen Rechtsextremismus und Neonazi-Umtriebe engagieren. „Es sind Menschen, die ein Beispiel geben und Mut machen“, sagte er.
Lammert erinnerte an die im vergangenen Herbst aufgedeckte Neonazi-Mordserie. Diese Gewalt und dieser Hass seien nicht zu akzeptieren, sagte er. Der Parlamentspräsident wies auch darauf hin, dass nach aktuellen Untersuchungen 20 Prozent der Bundesbürger latent antisemitisch eingestellt seien. „Das sind in Deutschland genau 20 Prozent zu viel“, sagte er. Am Mittag sollte sich der Neonazi-Untersuchungsausschuss des Bundestags konstituieren.