Putin will das Chaos - und die Macht

"Gelenktes Chaos" statt Invasion: Warum Putin wohl keine Panzer in die Ostukraine rollen lässt
von  Anna Smolchenko
Einsatzbereit: Prorussische Aktivisten in der ukrainischen Stadt Lugansk.
Einsatzbereit: Prorussische Aktivisten in der ukrainischen Stadt Lugansk. © AFP

"Gelenktes Chaos" statt Invasion: Warum Putin wohl keine Panzer in die Ostukraine rollen lässt

Moskau  – Nach der Krim die Ostukraine? Hinter der eskalierenden prorussische Brandstiftung in Lugansk, Donezk und anderen grenznahen Städten wird im Westen als Drahtzieher der russische Präsident Wladimir Putin vermutet.

Moskau sei "offensichtlich bereit, Panzer über europäische Grenzen rollen zu lassen", schätzt Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) die Lage ein. Auch in Kiew, in Washington und Brüssel schrillen die Alarmglocken.

Aber viele Experten sehen es anders: "Ein russischer Einmarsch wäre total absurd", meint Alexej Malatschenko vom Moskauer Carnegie Centre. Er und andere Analysten verweisen auf die enormen politischen und wirtschaftlichen Kosten.

Für sie führt Putin anderes im Schilde: Ein "gelenktes Chaos" in der Ostukraine soll ihm helfen, den russischen Einfluss zu sichern und die künftige Regierung in Kiew dauerhaft an die Kette der russisch gesteuerten Ostregionen zu legen.

Droht also gar keine Invasion – trotz der zigtausenden Einsatzkräfte, die Putin nach NATO-Angaben zusammengezogen hat? Will sich Putin den ukrainischen Teil des Donezk-Beckens und die Nachbargebiete doch nicht einverleiben?

Der niederländische Außenminister Frans Timmermans will das nicht glauben. Die bestens organisierten prorussischen Milizen, die Verwaltungsgebäude und Polizeistationen regelrecht erobern – das sei den Entwicklungen auf der Krim schon "sehr, sehr ähnlich", sagt er am Montag bei einem Treffen mit seinen EU-Kollegen in Brüssel.

"Wenn es aussieht wie ein Pferd, und wenn es geht wie ein Pferd, dann ist es üblicherweise ein Pferd und kein Zebra."

Pferd oder Zebra – wie Russland den Westen sieht, bringt Russlands Außenminister Sergej Lawrow am Montag auf den Punkt: Wer Moskau mit Sanktionen drohe und die "friedlichen" prorussischen Proteste kritisiere oder gar stoppen wolle, der lege eine "grenzenlose Scheinheiligkeit" an den Tag.

Und wenn Kiew die Gebäudebesetzer mit eigenen Sicherheitskräften vertreibe, dann sei ein diplomatischer Ausweg in Frage gestellt. Doch allem verbalen Säbelrasseln zum Trotz halten Experten ein offenes militärisches Eingreifen des Kreml für nahezu ausgeschlossen.

"Unsere Regierung hat schon begriffen, dass das Risiko zu hoch wäre", sagt Malatschenko vom Carnegie Centre. Er verweist darauf, dass US-Präsident Barack Obama mit Sanktionen gegen die Schlüsselsektoren der russischen Wirtschaft gedroht hat.

Überdies würde sich Russland mit der verarmten ostukrainischen Kohleregion eher einen Mühlstein ans Bein binden denn ein wirtschaftlich blühendes Gebiet. "Unprofitabel und unnötig", verbunden mit "gewaltigen Kosten für den Haushalt" wäre eine Annexion aus Sicht der Finanzzeitung "Wedomosti".

Vor der Gefahr einer massiven Kapitalflucht aus Russland warnte unlängst Weltbank-Präsident Jim Yong Kim. Zu guter Letzt ist – anders als auf der Krim – ein Beitritt zu Russland in den östlichen Gebieten nicht der Wunsch der Mehrheit.

"Nur 30 Prozent der Bewohner wollen zu Russland gehören", sagt der Politologe Konstantin Kalatschew unter Berufung auf mehrere Umfragen. Was Putin erreichen könne und wolle sei daher gar nicht die Einverleibung der Region, sondern "ein Szenario endlosen, gelenkten Chaos'", sagt Kalatschew.

"Die Ukraine soll zum abschreckenden Beispiel werden – für die negativen Folgen einer Revolution, von Demokratie, einem Mehrparteiensystem und der Hinwendung zu Europa".

Mit der Taktik, Unruhe zu stiften, könne Putin auch der Übergangsregierung in Kiew mehr Zugeständnisse abpressen. Das überraschende Angebot des ukrainischen Interims-Präsidenten Olexander Turtschinow vom Montag, die Bevölkerung am Tag der Präsidentschaftswahl auch über die von Moskau gewünschte Föderalisierung des Landes abstimmen zu lassen, könnte ein erster Erfolg von Putins Taktik sein.

Kommt es zu einer Föderation, dann können die Ostregionen künftig zentrale Weichenstellungen Kiews – etwa in Richtung der EU oder der NATO – blockieren.

 

 

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