Interview

"Putin setzt auf Erschöpfung": Politikwissenschaftler Carlo Masala entschlüsselt Strategie des russischen Präsidenten

Politikwissenschaftler Carlo Masala über die Strategie des russischen Präsidenten, die Nöte der Ukraine, Trump und die Rolle des Westens.
von  Ralf Müller
"Er wird die Wahlen in den USA abwarten", sagt Politologe Masala über Kreml-Chef Wladimir Putin.
"Er wird die Wahlen in den USA abwarten", sagt Politologe Masala über Kreml-Chef Wladimir Putin. © Valery Sharifulin/Pool Sputnik K

München - Der 55-jährige Carlo Masala ist Politikwissenschaftler und Professor für Internationale Politik an der Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften der Universität der Bundeswehr München. Mit der AZ spricht er über die aktuellen Entwicklungen rund um den Ukraine-Krieg. 

AZ: Herr Masala, wie schätzen Sie die derzeitige Lage im Ukraine-Krieg ein? Es ist die Rede von Pattsituation, Abnutzungs- und Stellungskrieg und so weiter.
CARLO MASALA: Ich würde nicht von einer Pattsituation sprechen, denn dafür ist das Schlachtfeld zu dynamisch. Es ist teilweise ein Abnutzungskrieg, wenn wir uns beispielsweise die Kämpfe um Awdijiwka ansehen. Da versuchen die Ukrainer, den Russen so viel Verluste wie möglich zuzufügen. Rund um die Krim beobachten wir dynamische Elemente. Die Ukrainer setzen die Russen auf der Krim immer mehr unter Druck. Ob das letztlich erfolgreich sein wird, ist eine andere Frage. Es ist eine Mischung zwischen dynamischen und statischen Elementen, die wir gerade an der Front beobachten können. Aber insgesamt kann man meines Erachtens nicht von einer Pattsituation sprechen.

Der Politikwissenschaftler Carlo Masala von der Bundeswehr-Universität München.
Der Politikwissenschaftler Carlo Masala von der Bundeswehr-Universität München. © Sven Hoppe (dpa)

Kann es in diesem Jahr einen "Gamechanger" in dem Krieg geben? Was könnte man sich darunter vorstellen?
Ich bleibe dabei: Es gibt keine "Gamechanger". Die Ukraine geht jetzt in die Phase der Verteidigung über. Sie versucht, ihre eigene Rüstungsproduktion hochzuziehen, um dann - vielleicht gegen Ende des Jahres - die Möglichkeit zu haben, mit mehr eigener Waffenproduktion in die Gegenoffensive zu gehen. Das ist kein "Gamechanger", sondern eine notwendige Maßnahme, damit die Ukraine den Verteidigungskrieg weiterführen kann. Momentan besteht die Schwierigkeit darin, die Ukraine dauerhaft mit dem, was sie braucht, zu beliefern: Munition, Ersatzteile, Artilleriesysteme und Luftverteidigungskapazitäten. So wird die Ukraine in die Lage versetzt, die Phase der Verteidigung, die ich in 2024 für lange Zeit erwarte, zu überstehen.

Politikwissenschaftler Masala: "Die Aufgabe, Russland einzuhegen, wird im Falle eines Wahlsiegs Trumps definitiv auf uns zukommen"

Spielt der Wahlausgang in den USA bei Putins Erwägungen eine große Rolle?
Da ist vieles dran. Deswegen glaube ich auch, dass wir 2024 nicht viel an politischer Bewegung sehen werden, weil Putin sicherlich erst die Wahlen in den USA abwarten wird. Das spielt in Putins Kalkül natürlich eine Rolle - nicht die entscheidende, aber eine wichtige Rolle.

Sie haben darauf hingewiesen, dass sich die europäische Politik auf den Fall eines Trump-Sieges in den USA einstellen sollte, dies aber nicht tut. Was kann sie denn noch tun in dem knappen Jahr?
Wir müssen darüber nachdenken, wie wir Europäer die Aufgabe der konventionellen Abschreckung der Russischen Föderation stärken. Die Aufgabe, Russland auszubalancieren und einzuhegen, wird im Falle eines Wahlsiegs Trumps definitiv auf uns zukommen, weil sie eine primär europäische sein wird.

Können Sie sich vorstellen, dass sich Trump mit seinem "Kumpel" Putin zusammensetzt, sich einigt und die Ukraine aufteilt?
Auf die Aufteilung der Ukraine kann er sich ja nicht mit Putin einigen. Dazu braucht er ja die Ukraine. Trump kann ja nicht mit Putin über deren Aufteilung verhandeln, wenn die Ukraine noch weiter kämpft. Trump könnte US-Waffenlieferungen an die Ukraine einstellen. Dann könnte die Ukraine nicht mehr in der Lage sein, zu kämpfen. Das heißt, es geht eher über die Einstellung von Waffenlieferungen.

Was braucht die Ukraine am dringendsten?
Ersatzteile, Munition, Artilleriesysteme und Raketen mit längerer Reichweite, also ATACMS oder Marschflugkörper wie Taurus. Zentral sind die Basics der Kriegsführung: Munition, Munition, Munition und Ersatzteile.

Warum kommt der Westen in dieser Hinsicht nicht so recht in die Gänge: Will er nicht oder kann er nicht?
Das kann ich nicht beantworten, weil ich zu wenig Experte in Fragen der Rüstungsindustrie bin. Das Verhältnis zwischen Rüstungsindustrie und Politik scheint nicht dergestalt zu sein, dass die Industrie die aus ihrer Sicht notwendigen langfristigen Perspektiven bekommt, um die Produktion hochzufahren.

Was identifizieren Sie derzeit als Putins Kriegsziel?
Was Putin selbst sagt: die Demilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine. Militärisch versucht Russland gerade den ganzen Donbas einzunehmen. Das ist das, was wir aus Moskau hören. Ob es noch andere Kriegsziele gibt, wissen wir nicht. Wir können nur das nehmen, was ständig geäußert wird, und das ist relativ klar.

Masala: "Russland unterstützt die extreme Rechte in Frankreich"

In Deutschland gibt es politische Kräfte - die AfD und eventuell auch die Wagenknecht-Partei -, die damit durchaus übereinstimmen würden. Spekuliert man in Russland auch auf ein Erstarken dieser Kräfte?
Putin spekuliert in ganz Europa auf die Kräfte, die erschöpft sind oder die generell ein Problem haben mit der militärischen Unterstützung der Ukraine. Medienberichte haben aufgedeckt, wie Russland zum Beispiel die extreme Rechte in Frankreich unterstützt. Putin spielt auf Zeit in der Hoffnung, die Gesellschaften werden "erschöpft", sehen den Sinn der Unterstützung der Ukraine nicht mehr, und so erodiert die Zustimmung zu den Regierungen, welche die Ukraine unterstützen.

Täglich werden hohe Zahlen an toten russischen Soldaten und zerstörtem russischen Kriegsgerät gemeldet. Kann Russland wirklich auf Zeit spielen?
Die Zahlen kommen von der Ukraine und sind mit Vorsicht zu genießen, weil es sich um Kriegspropaganda handelt.

Aber selbst wenn nur die Hälfte stimmt, sind es hohe Zahlen...
Putin hat noch die Möglichkeit, nach einer Wiederwahl, die natürlich erfolgreich sein wird, eine erneute Mobilisierung auszurufen. Und dann kann er sicherlich noch einmal 200 000 oder 300 000 Männer an die Front schicken. Also: Putin hat noch Mobilisierungspotenzial.

"Wir haben es mit einem neoimperialen Regime in Moskau zu tun"

"Der Russe", der in Zeiten des Kalten Krieges immer drohend "vor der Tür" stand, ist wieder da. Aber müssen wir uns vor ihm wirklich fürchten, nachdem die russische Armee in der Ukraine doch ein ziemlich erbärmliches Bild abgibt?
Die russischen Streitkräfte brauchen natürlich eine Zeit der Regeneration. Wir haben es aber mit einem neoimperialen Regime in Moskau zu tun, das auf Machterweiterung aus ist. Die russischen Streitkräfte haben auch gelernt, vor allem im Bereich der elektronischen Kampfführung und mit Drohnen. Es wird von russischer Seite sehr stark auf Masse gesetzt. Dieser Masse muss man ja erst mal etwas entgegensetzen. Da ist die Wahrscheinlichkeit, dass man nicht jetzt, aber möglicherweise in einer Dekade versucht, die Baltischen Staaten anzugreifen, nicht von der Hand zu weisen.

Kürzlich überflog eine russische Rakete polnisches Gebiet. Wie groß schätzen Sie die Gefahr einer unabsichtlichen Eskalation zu einem Krieg zwischen Russland und der Nato ein?
Wir sehen, wie besonnen die Nato-Staaten auf solche Vorkommnisse reagieren. Die Wahrscheinlichkeit einer unbeabsichtigten Eskalation ist zumindest von der Nato-Seite her relativ gering. Die Polen, die eine unmittelbare Grenze zum Kriegsgebiet haben, haben selbst unter der alten Pis-Regierung sehr besonnen reagiert, als sich eine ukrainische Rakete auf ihr Gebiet verirrt hat und jetzt eine Rakete drei Minuten lang im polnischen Luftraum war. Man versucht seitens der Nato, eine solche Eskalation zu verhindern.

Können Sie in der deutschen Ukraine-Politik eine Strategie erkennen?
Die Strategie besteht darin, die Ukraine zu ermächtigen, sich zu verteidigen, in der Hoffnung, dass irgendwann die Erschöpfung auf beiden Seiten so groß sein wird, dass sie sich an den Verhandlungstisch begeben. Die Strategie der deutschen Bundesregierung ist es nicht, die Ukrainer in die Lage zu versetzen, entscheidende Erfolge auf dem Schlachtfeld zu erzielen. Deutschland liefert Dinge, die verhindern, dass die russischen Streitkräfte größere Erfolge erzielen. Stellen Sie sich vor, die Luftverteidigungssysteme wären nicht da, wie groß dann der Terror unter der Zivilbevölkerung wäre.

Es gibt auch noch Konflikte um Taiwan und im Nahen Osten. Inwieweit hängen diese mit dem Ukraine-Krieg zusammen: Ist das eine konzertierte Aktion von Ländern wie Russland, China und dem Iran gegen den Westen?
Ich sehe da keine koordinierte Strategie. Dazu würde es ja gehören, dass irgendjemand der Hamas den Befehl gegeben hat, genau im Oktober Israel anzugreifen. Ich sehe aber den Versuch vieler Akteure, das strategische Vakuum in Folge der fast ausschließlichen Konzentration der USA auf die Ukraine, auszunutzen.

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