„Primitives Anbiedern“
"Unser Hauptproblem derzeit sind nicht arme Rentner, sondern alleinerziehende Mütter und Menschen mit prekären Jobs" - CDU-Experte Josef Schmid im AZ-Interview über den Kurs von Jürgen Rüttgers und ein Spalten und Buhlen.
AZ: Herr Professor Schmid, was halten Sie vom „schwarzen Arbeiterführer“ Jürgen Rüttgers, der einen Extra-Bonus bei der Rente für Geringverdiener vorschlägt?
JOSEF SCHMID: Jürgen Rüttgers nimmt Ängste der Menschen auf. Er hat ein gutes Gespür für soziale Unsicherheiten der Leute, hat sich quasi zum sozialpolitischen Gewissen der CDU aufgeschwungen.
...also die Rolle von Norbert Blüm übernommen?
Rüttgers ist Ministerpräsident, das ist institutionell anders. Die Sozialpolitik in der CDU wird nicht mehr, wie noch bis hinein in die Ära Kohl, von den Ausschüssen der Partei getragen. Dann sind Blüm und sein Ministerium in diese Rolle geschlüpft. Damals war klar, dass Sozialpolitik im innerparteilichen Kompromissverfahren in den Gremien und Ausschüssen ausgehandelt wurde. Der Parteichef hat dann entschieden. Jetzt haben Ministerpräsidenten diese Aufgabe übernommen.
Was ist daran anders?
Die Ministerpräsidenten agieren nicht innerparteilich, sondern über die Medien. Während Blüm sowohl an die Linie der Sozialausschüsse als auch an die Kabinettsdisziplin gebunden war, kann jemand wie Rüttgers strukturell opportunistisch sein und auf jedem Thema rumhopsen, wie er gerade lustig ist. Die CDU ist, was das Soziale betrifft, organisatorisch ausgetrocknet. Und CDU-Chefin Merkel hütet sich, in solchen Fragen einem Ministerpräsidenten den Krieg zu erklären.
Immerhin spricht Rüttgers ein akutes Problem an...
Natürlich drohen uns langfristig, in zwanzig Jahren, Rentenprobleme. Deshalb ist es vernünftig, das Thema jetzt aufzugreifen. Aber nicht so. Wir haben die Rente für diejenigen saniert, die über eine „normale“ Erwerbsbiografie verfügen. Große Probleme bereiten uns auf Dauer jedoch die Geringverdiener im Niedriglohnsektor.
Was kann die Politik tun?
Entweder muss sie die Sozialhilfe stärker in die Rente einbauen, etwa über eine Art Mindestsicherung, die aber steuerfinanziert werden müsste. Die andere Möglichkeit wäre ein sanfter Umbau der Rente, der den Faktor Dauer mit aufnimmt und Zusatzpunkte für schlecht bezahlte Jobs gibt. Zurzeit müssten Sie unter Rentengesichtspunkten einen Niedrigjob sofort aufgeben, weil die Mindestrente für Erwerbslose viel mehr bringt.
Geht Rüttgers nicht in diese Richtung?
Er tut so, als ob das ein Problem von heute und morgen wäre. Das ist primitives, populistisches Anbiedern bei den heutigen Rentnern. Dass sich Rentner heute als verratene Generation vorkommen, entbehrt jeder Grundlage. Hart gesagt: Unser Hauptproblem derzeit sind nicht arme Rentner, sondern alleinerziehende Mütter und Menschen mit prekären Jobs, die ohne Lobby sind. Die Generation, die heute in Rente geht, ist die letzte Generation, die mit ordentlicher Verzinsung aus dem beitragsfinanzierten System herausgeht.
80 Prozent der Bürger befürworten Rüttgers’ Vorstoß...
Wenn Sie mich fragen, ob ich schönes Wetter will, sage ich auch ja. Diese Umfragen können Sie in die Tonne treten.
Wie reagiert Merkel?
Sie steht vor einem Dilemma: Entweder hat sie selbst ein sozialpolitisch attraktives Thema – oder sie ist die Unsoziale und überlässt Rüttgers das Terrain. Helmut Kohl wusste immer: Mit Rente gewinnt man Wahlen. Weil Merkel eine gute Schülerin Kohls ist, befürchte ich, dass sie Rüttgers entgegenkommt.
Interview: Markus Jox
Der 51-Jährige Josef Schmid ist Politik-Professor und Parteienforscher an der Uni Tübingen. Er promovierte über die CDU.